Wenn das Tintenfass nach dem Teufel fliegt

Erstellt am 21.11.2019

WESLARN. Willkommen im Mittelalter – und in Sankt Urbanus in Weslarn: Dort begingen Gläubige aus der Region den Reformationstag – die angehenden Konfirmanden hatten schon vorher original verkleidet draußen Szenen nachgespielt: Ablassgeschacher, Thesenanschlag, wie Luther mit dem Tintenfass nach dem Teufel warf. Pfarrerin Leona Holler spannte den Bogen von heute ins Damals: „Vor 502 Jahren betrat ein Mann die Weltbühne. Ein junger Mann, nicht viel älter als du und ich. Ein Mann, nicht selbstbewusst, sondern voller Selbstzweifel und Angst.

Oft fehlen ihm die Worte. Heimatlos ist er, den Eltern fremd, dem Kloster unbequem, den Gelehrten zu kompliziert. Es sind nicht viele, die ihn verstehen: den jungen Mönch Martin Luther. Dessen Herz eng ist vor Angst, Angst, vor Gott nicht bestehen zu können. Auf die Suche macht er sich deshalb – auf die Suche nach dem Gott, von dem Jesus Christus erzählt hatte. Von dem Gott, wie er in der Heiligen Schrift bezeigt wird. Auf die Suche nach dem Gott, der nicht die Luft zum Atmen nimmt, sondern zum Leben befreit. Auf die Suche nach dem Gott, der aus der Enge zur Freiheit führt.“

Martin Luther, er habe diesen befreienden Gott in seinem Leben finden können und damit zugleich eine Bewegung ausgelöst, die 502 Jahre später alle in der wunderschönen alten Kirche in Weslarn zusammengeführt habe.

Es ist ein wenig kühl in der Kirche – dagegen hilft der heiße Apfelpunsch, den Freiwillige für später in einem der Durchgänge bereitgestellt haben, zusammen mit „Soester Seelen“, in die Adventszeit passenden würzigen Broten, die ihren Ursprung im Schwäbischen haben sollen und angeblich wegen der dort verbrieften Sparsamkeit kleine, handliche Stangenbrote geworden sind.

Luther ist auch da und durchschreitet mit wuchtigen Schritten den Mittelgang, eine große, dicke Bibel unter dem Arm und lautstark hadernd mit sich und der Welt: Wo ist er zu finden, der gnädige Gott? Überall nur Teufel und Hölle und Fegefeuer! Wo ist der Weg heraus aus dieser Angst? Pfarrer Ralph Frieling ist ins Kostüm geschlüpft und gibt den wortgewaltigen Reformator – die Kirchenbesucher hängen gebannt an seinen Lippen.

Herzerwärmend: Die „Hugo“-Band spielt in kleiner Besetzung mit Gitarre, Bass, Cajón und Piano vorne im Chorraum: Lobe den Herrn erklingt, und dazu eingängige Ohrwürmer aus vielen „Hugo“-Gottesdiensten der Jugendkirche.

Was das Herz eng macht, darum geht es inhaltlich im Gottesdienst: Um Angst vor Höllenfeuer, Verdammnis und korrupten Mönchen, Priestern, Bischöfen auf der einen Seite und ganz persönliche Befreiung durch eine neue Erkenntnis, wie Luther, Zwingli und Calvin sie verbreiteten, auf der anderen. Auch darum, wie Angst noch heute die Herzen eng macht und dadurch die Ausgrenzung und den Hass groß. Wie überaus unwürdig und unnötig!

Es gibt sie, die Wege aus der Falle – das berichtete Anja Tiggesmeier aus Schallern aus ihrer persönlichen Arbeit: Hier in der Region aufgewachsen, wechselte sie vom Acker in die Pädagogik, leitet heute eine Heimvolkshochschule in Mitteldeutschland, arbeitet mit Kindern und Jugendlichen vieler Nationen, kommt dadurch auch mit den Eltern und dem Rest der Familien in Kontakt. Alle haben es aus diesen oder jenen Gründen nicht einfach im Leben, viele haben Erfahrungen hinter sich, die mutlos machen, die alles Gewohnte im Leben zusammenbrechen ließen, erzählt sie – viele von ihnen fühlten sich „abgehängt“, unwichtig, unnütz, nicht gebraucht.

Zirkus, Tanz, Theater, gemeinsame Stunden in der Natur – so bringt Tiggesmeier alle Generationen zusammen, erzählt sie. Ihre Überzeugung: „Akzeptanz entsteht im Herzen, nicht im Kopf!“ Ihre Erfahrung aus der Praxis: „Kinder, Jugendliche und Eltern erfahren durch das Miteinander, dass sie einzigartig und unterschiedlich sein dürfen und trotzdem akzeptierter und angenommer Teil einer Gruppe sein können, dass Vielfalt eine Gemeinschaft bereichert, aber nicht stört.“ Zuhören sei wichtig und Zuhören bewirke viel und nehme Angst, erzählte sie weiter: „Ein ‚Feind‘, das sei schließlich nur jemand, dessen Geschichte wir noch nicht hören konnten.“

Viel Spaß hatten die Konfirmanden, die für ihre Zeitreise auch in historische Gewänder schlüpfen durften. Fotos: Thomas Brüggestraße

Konfirmanden-Unterricht einmal ganz anders: In Weslarn wurde die Zeit von Martin Luther wieder lebendig.