„Danach war nichts mehr wie vorher“

Erstellt am 22.11.2019

Von Kristin Sens

MARSBERG. „Ich habe meinen Ohren und Augen nicht getraut: der Eiserne Vorhang begann sich aufzulösen“, erinnerte sich Propst Meinolf Kemper an jenen denkwürdigen Tag vor 30 Jahren, als Günter Schabowski die Öffnung der Grenzübergänge verkündete. Er verfolgte die sich überschlagenden Ereignisse am heimischen Fernseher.

Näher dran am Geschehen war die damals 19-jährige Bettina Mander. Sie lebte zu dieser Zeit in Westberlin. Erstmals erzählte sie im Rahmen der von der Stadt und den beiden christlichen Kirchen organisierten Erinnerungsveranstaltung in der Propsteikirche nun einem größeren Publikum davon, wie sie den Tag und die Tage danach erlebte. „Ich weiß nicht, was meine Emotionen mit mir machen werden“, gestand sie.

„Ich saß in meinem Zimmer, im Haus meiner Eltern in Zehlendorf und sah die Nachricht auf einem kleinen, schwarz-weiß-Röhrenfernseher“, erinnerte sie sich – und fügte hinzu: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich gleich verstanden habe, was es bedeutete.“ Denn anschließend ging sie ganz normal zum Basketball-Training. „Danach war nichts mehr wie vorher.“

Mit Freundinnen ging sie an verschiedene Punkte der Mauer, sah, dass hier bereits Elemente mit großen Maschinen herausgetrennt wurden. Auch an die, unweit ihres Elternhauses gelegene, Glienecker Brücke zog es sie. „Soweit wir denken konnten, war dort die Welt zu Ende gewesen.“ Als Schauplatz von mehr oder weniger dubiosen Übergaben war die Glienecker Brücke – nicht nur in Filmen -  zu einem Symbol des komplizierten deutsch-deutschen Verhältnisses geworden.

In den folgenden Tagen verpesteten die Trabis, welche kolonnenweise die Grenzübergänge passierten, die gesamte Berliner Luft. „Aber das machte uns nichts aus. Wir waren in einem Ausnahmezustand“, so Mander. Die Lockerung der Grenzbestimmungen war zunächst nur in einer Richtung erfolgt, erst am 24. Dezember entfiel auch der Devisen-Zwangsumtausch für Westdeutsche.

„Direkt nach der Bescherung bin ich mit Freunden im Auto meiner Mutter zur Glienecker Brücke gefahren, um zu schauen, ob es wirklich stimmte.“ Dort hätten sie Potsdamer, mitsamt ihrem Fahrzeug (einem, großen, schweren Volvo), ein Stück über die Brücke getragen, seien bei ihnen eingestiegen und hätten sie spontan zu sich nach Hause eingeladen.

Wie anders war das noch wenige Wochen zuvor gewesen, denn, wie so viele Familien, hatten sie Verwandte in der damaligen DDR, die sie gelegentlich besuchten – immer mit einem großen Aufwand verbunden und ständig die Angst im Nacken, gegen eine Vorschrift verstoßen zu haben. Gut erinnerte sich Bettina Mander noch an ihre erste Fahrt alleine mit ihrer Schwester nach Schwerin. „Als ich Jahre später mit meinen beiden Töchtern einmal den früheren Grenzübergang Helmstedt passierte, war es sofort wieder da, dieses Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein.“

Diese Schikanen mussten zwar alle Reisenden erdulden. Für die Westberliner in ihrer Enklave, war das aber umso präsenter. So erinnerte Mander auch daran, dass Westberlin zwar praktisch ein Teil der BRD gewesen sei, formell aber lange Zeit nicht: Sonderstatus der Berliner Abgeordneten, kein „richtiger“, sondern nur ein „behelfsmäßiger“ Personalausweis und gesonderte Grenzübergangsbestimmungen für Westberliner sind nur einige dieser Besonderheiten.

Bereits die ersten Jahresfeiern zur Deutschen Einheit hätten aber nichts mehr mit dem Gefühl der überschwänglichen Freude und der Aufbruchstimmung zu tun gehabt, wie sie beim Fall der Mauer am 9. November 1989 herrschte. „Ich kann nur hoffen, dass Deutschland weiter zusammenwächst“, schloss Mander ihre Ausführungen.

Propst Kemper hatte in seinen einleitenden Worten angemahnt, dass die Erinnerung an diesen Tag auch einen Auftrag beinhaltet, zu „Vertrauen, Toleranz und Wohlwollen“, um die „Menschenwürde, die Demokratie und den Frieden“ zu verteidigen.

Bürgermeister Klaus Hülsenbeck betonte: „Das haben mutige Bürger in Ostberlin und der ganzen DDR erreicht. Die Sehnsucht nach Freiheit war stärker als die Angst vor dem übermächtigen Überwachungsapparat.“ Hülsenbeck erinnerte aber auch an die Rolle von Michail Gorbatschow und den Mut des ungarischen Ministerpräsidenten sowie das Engagement westdeutscher Politiker, wie Helmut Kohl, Willi Brandt, Dietrich Genscher oder Egon Bahr. „Es war eine historische Chance, die Diktatur zu überwinden. Heute können wir sagen, wir haben diese Chance genutzt.“

Eingebettet waren die Redebeiträge in das Orgelkonzert des Weimarer Universitätsorganisten Wieland Meinhold. Manchmal verspielt, manchmal meditativ, dann wieder aufbrausend, geradezu wuchtig, waren die musikalischen Interpretationen – darin aber den emotionalen Ausnahmezustand spiegelnd, der vor genau 30 Jahren Deutschland überrollte. Die Zuhörer des Abends dankten es ihm und der Referentin mit Standing Ovations.

Zeitzeugin Bettina Mander erinnerte sich daran, wie sie den Tag des Mauerfalls vor dreißig Jahren erlebt hatte. Fotos: Kristin Sens

Standing Ovations, Blumen und eine Flasche Wein gab es für die Vortragenden, Organist Wieland Meinhold und Zeitzeugin Bettina Mander. Organisiert wurde die Erinnerungsveranstaltung von der christlichen Ökumene Marsberg, vertreten durch Propst Meinolf Kemper (li.) und der Stadt Marsberg, vertreten durch Bürgermeister Klaus Hülsenbeck (re).