Musikalisches Mahnmal gegen Rassismus

Erstellt am 28.11.2019

Von Wilfried Pankauke

ARNSBERG. Mit der Aufführung von Michael Tippetts „A Child of Our Time” in der Abtei Königsmünster setzten zwei Arnsberger Chöre, das Philharmonische Orchester Hagen und das TEATRON Theater  ein deutliches Zeichen gegen Rassismus und Machtmissbrauch in Politik und Gesellschaft. Die fast zweistündige Veranstaltung geriet zu einem musikalisch-theatralen Mahnmal, das die Zuhörerschaft in tiefe Betroffenheit versetzte. Über die ästhetische Dimension von Musik und Theater hinaus gewann die Darbietung eine appellative Ebene, der sich niemand entziehen konnte.

Der Beginn mit dem „Lyric Movement“ für Viola und kleines Orchester führte sehr behutsam ein in die Klangwelt zwischen Spätromantik und Moderne, der auch das Hauptwerk des Abends verpflichtet war. Bijan Fattahy nutzte die Freiheit der senza misura-Passagen für sein ausdrucksvolles Spiel und bekam ein gleichrangiges Echo der Holzbläser, besonders der Flöte. Die kleine Holzbläser- und Streicherbesetzung musizierte sehr transparent und kammermusikalisch, für die Zuhörer eine Einübung ins Stillewerden und ins konzentrierte Hören.

Überraschend dann der Einstieg des Oratoriums von Tippett: Flüchtlinge kommen durch das Auditorium, einzelne Stimmen aus dem Chor weisen sie zurück, werden zur Masse des Mobs und schreien: „Weg mit denen!“ Es ist vor dem Einsetzen der Musik die Vorwegnahme der Terrorszene aus dem zweiten Teil, ein eindeutiges Fanal dafür, wovon hier geredet und gesungen werden soll.

Das Libretto, das der Komponist selbst geschrieben hat, entwickelt im ersten Teil die Erzählung von der allgemeinen Unterdrückung der Menschen durch die Machthaber. Der Solo-Bass fungiert als Erzähler, der Tenor beklagt als leidender Junge Armut und Gefangenschaft, der Chor und der Solo-Sopran stellen bohrende Fragen, die im Spiritual „Steal away to Jesus“ ihre vorläufige Antwort finden.

 Der zweite Teil konkretisiert die Situation. Im Vorspann der Schauspieler wird die Geschichte von Herschel Grynszpan erzählt, der aus Verzweiflung über die Deportation der Mutter zum Mörder wird. Er ist das „Kind unserer Zeit“, ein Sündenbock, an dem die Mächtigen ihre Willkür auslassen. Onkel (Bass) und Tante (Alt) des Jungen ermahnen den Jungen (Tenor), nichts Unüberlegtes zu tun, können ihn aber nicht von seiner Absicht abbringen.

Der Chor wechselt die Perspektive und greift die Fremden mit verbaler Gewalt an, droht ihnen und ruft zum Mord auf. Die Schauspieler konkretisieren diese Einstellung durch ein weiteres Fallbeispiel. Drei in den Handlungsverlauf eingearbeitete Spirituals bieten – auch durch ihre spätromantische Harmonie – einen vorläufigen Trost. Der dritte Teil reflektiert im Wechsel von Chor und Soli die Schicksale der handelnden Personen.

Nicht Trostlosigkeit steht am Ende, dem Winter der Vergangenheit steht der Frühling der Zukunft entgegen. In allem Leid wachsen Licht, Mut und Hoffnung, dem schreienden Marschierer gilt Anne Franks Vorsatz, nicht zu hassen. Im Spiritual „Deep River“ wird das Bild einer Heimat vor Ohren gestellt, das jenseits des Jordans himmlischen Frieden verheißt.

Tippetts Musik stellt große Anforderungen an alle Musiker. Expressive dissonante Ausbrüche mit chorischen Exklamationen auf der einen Seite, zarte kammermusikalische Verinnerlichungen auf der anderen verlangen dem Chor und dem Orchester alles ab. Die Solisten stellen nicht nur die Personen der Handlung dar, sie überhöhen auch das Ensemble in einer emotional gesteigerten Tonsprache. Dominic Große artikulierte als Erzähler sehr verständlich und mit sonorer Stimme seinen Part, Holger Marks gab der Rolle des Jungen ein unverwechselbares Profil.

Bettina Pieck war für die erkrankte Altistin Judith Simonis eingesprungen – bewundernswert, dass sie diese Partie so souverän beherrschte. Natasha Goldberg überzeugte mit ihrer auch in der Höhe noch warmen und weichen Stimme und ließ die Spirituals zu einem strahlenden Fest werden. Der Projektchor und der Oratorienchor aus Arnsberg bildeten ein vielstimmiges Ensemble, das vom Aufschrei bis zur differenzierten liedhaften Gestaltung, beim Chor der Unterdrücker bis zum Chor der Unterdrückten und bei allen Zwischentönen chorischer Gestaltung gefordert war. Er löste seine Aufgaben -besonders im Blick auf die Schwierigkeiten der Chorpartien – mit Präzision und bewundernswertem Engagement.

Das Philharmonische Orchester Hagen war ein hervorragender Partner, bei dem die Holzbläser besonders gefielen, der aber auch im Tutti einen ausgewogenen Klang hervorbrachte und gegenüber Solisten und Chor eine wohltuende Zurückhaltung bewies.

Die Schauspieler des TEATRON Theaters waren in ihren Rollen sehr glaubwürdig, spielten und sprachen deutlich und artikuliert und brachten auf diese Weise eine neue Dimension in die Aufführung ein. Die letzten Szenen führten etwas vom Handlungsfaden des Oratoriums ab. Weniger wäre hier mehr gewesen, besonders weil nicht alle zitierten Aussagen dem Skopus des Oratoriums entsprachen.

KMD Gerd Weimar hat mit der Auswahl dieses Stückes den Nerv der Zeit getroffen. In mühevoller Kleinarbeit hat er den Chor und das Orchester vorbereitet, sodass ein solch exzellentes  Gesamtergebnis zustande kommen konnte. Bei der Aufführung hatte er die Fäden stets in der Hand und sorgte durch sein klares Dirigat für die Synchronität von Solisten, Chor und Orchester. Ihm galt am Sonntag der tief empfundene Dank des Auditoriums.

 

Ausdrucksstark und mit großem Engagement interpretierten die Solisten ihre Gesangsparts. Fotos: Gernot Disselhoff

Die szenischen Darstellungen der Schauspieler des TEATRON-Theaters verdichteten das Oratorium ungemein und hoben es in eine neue Dimension.

Mit stehendem Applaus feierte das Publikum in der Abtei Königsmünster die Aufführenden. Foto: Frank Albrecht