Mit dem Tod fängt das Leben erst an

Erstellt am 28.02.2020

Von Frank Albrecht

ARNSBERG - Mit diesem Thema hat das „Arnsberger Netzwerk Leben mit dem Tod“ zu dem auch die evangelische Kirchengemeinde Arnsberg gehört den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf getroffen: Zum Vortrag über die so genannten Nahtod-Erfahrungen (NTE) von Prof. Dr. Andreas Neyer von der TU Dortmund kamen rund 130 Interessierte in den Saal der Katholischen Erwachsenen- und Familienbildung (KEFB).

Die gestellten Stühle reichten aber nicht aus, um allen Zuhörern des Vortrages „Blick nach drüben – Neue Erkenntnisse über die Nahtodforschung und Konsequenzen für unser Gottes- und Menschenbild“ einen Platz zu bieten. Und dass, obwohl das Thema so recht gar nicht in die Karnevalszeit passen mag. Eifrig wurde mitgeschrieben oder ein Teil des Vortrages sogar auf dem Handy mitgeschnitten.

Sorgsam umriss Prof. Neyer die Thematik und stellte ihre Ursprünge vor. Die lägen vor allem darin begründet, dass heute immer mehr Menschen ihre Erfahrungen mit dem Nahtod machen könnten. Der medizinische Fortschritt sei in der Lage, den Vorgang des Sterbens zu unterbrechen und aufzuhalten. „Der Weg in den Tod kommt ganz und gar nicht schlagartig“, so der Physiker der Technischen Universität Dortmund. Bis zum Absterben der letzten Zelle im menschlichen Körper, so der Professor, könnten Tage vergehen. Von Geschlecht oder Herkunft sei dabei völlig unabhängig, dass sich zum Beispiel die Hautzellen des Menschen besonders lange halten können.

Dass die Erfahrungen mit dem Nahtod keine Glaubenssache sind, sondern schon vor Jahrhunderten diskutiert und heute sogar in einer Studie erforscht seien, belegten Berichte bei Platon aus der Antike. Und in der heutigen Zeit sind es die empirischen Forschungen des niederländischen Kardiologen Pim van Lommel, der Menschen nach ihren NTE befragt und 62 individuelle Geschichten dazu aufgefangen hat.

„Es ist eben nicht so, wie viele Menschen denken: Beim Sterben geht der Vorhang nicht einfach runter“, so Neyer. Untersuchungen hätten durch Befragungen belegt, dass nach dem Tod das Leben erst anfange. Dabei gebe es aber die wichtige Erkenntnis, dass es nicht egal ist, was man vorher auf der Erde gemacht habe. Neben den positiven gebe es nämlich auch die negativen NTE.

Der Physiker aus Dortmund beschrieb die Erfahrungen mit Nahtod vor seinen Zuhörern als einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand. Den könnten Menschen nach einem Kreislaufstillstand oder einem schweren Verkehrsunfall erleben. Zudem hätten auch Bergsteiger, die an der Erschöpfungsgrenze auf Tour sind, von diesem Bewusstseinszustand berichtet.

Generell gelte aber, dass diese Erfahrungen alle Menschen machen können. In seinen Gesprächen mit Menschen, die das erlebt haben, seien von dem Forscher aus den Niederlanden Licht, Musik und Farben als Teil des Erlebten beschrieben worden. Auch hätten die Menschen mit NTE ihren Körper während der laufenden Wiederbelebung von außen betrachtet. „Ganz oft haben die Befragten ihren Wunsch geäußert, dass sie nicht mehr ins Leben zurück wollten“, so Prof. Neyer.

Die Erfahrungen mit Nahtod haben bei allen Befragten ihre Wirkungen hinterlassen. Und Erkenntnisse – wie die, dass die eigene Identität nach dem Tod erhalten bleibt. Mit den Erfahrungen sei vielen Menschen aber auch die Angst vor dem Sterben genommen worden. Sterben ist natürlich, bedeutet aber nicht den Verlust der eigenen Identität. Menschen auf dem Weg dahin haben besondere Seh- und Hörwahrnehmung beschrieben, Gedanken und Emotionen erlebt.

Ohne erkennbare Zweifel im Publikum sei die NTE mit den Gefühlen Liebe, Friede und purer Vollkommenheit zu verbinden, so der Professor. Früher seien die Empfindungen aus dem Nahtod geheim gehalten worden, weil den Menschen, die sie äußerten, die Nervenheilanstalt gedroht hätte. Eine besondere Erfahrung des Nahtods, so Neyer, sei die mit dem Licht. „Das Licht wird als die reine Liebe wahrgenommen“, beschrieb der Wissenschaftler. Und in einem Video, das ein Gespräch mit einem Nahtod-erfahrenen Menschen zeigte, wurde ein Dialog mit Gott beschrieben. Das Licht sei ein Symbol für Gott, für seine Liebe und Akzeptanz, die keine Zweifel daran mehr zulasse.

Gespannt folgten die Zuhörer der Argumentation von Prof. Neyer, der den Verlust der Angst vor dem Tod und die nachhaltigen Einflüsse auf die Lebensführung skizzierte. So habe die NTE bei betroffenen Menschen diese im „echten“ Leben auf Dauer verändert. Prof. Neyer erinnerte an den britischen Mediziner Sam Parnia und sein Buch „Der Tod muss nicht das Ende sein“.

Neyer gab aber auch zu bedenken, dass genau diese Überlegungen im krassen Widerspruch zu medizinischen und religiösen Erkenntnissen stehen. Vorherrschende Theorie sei, dass wenn es keine Gehirntätigkeit mehr gibt auch nichts mehr da ist. Medizinische Erklärungsversuche für die NTW hätten deshalb oft Sauerstoffmangel oder chemische Reaktionen als Ursache für die Gefühle der Menschen in der Todesphase gesehen.

Dagegen würden die Untersuchungen van Lommels anderes belegen: NTE zeichnen sich durch ein erweitertes Bewusstsein und einen größeren Realitäts- und Wirklichkeitsgehalt aus. Im Nahtod trennten sich das Wesen „Mensch“ und seine materielle (sterbliche) Hülle. Obwohl die NTE generell schwer messbar seien, ergebe die Beschäftigung mit der Erfahrung ein anderes Bild vom Tod und beeinflusse auch das Gottesbild: „Das ICH geht nicht verloren“, so Neyer. Deshalb sei schwer zu definieren, was Tod und was Sterben sei. Wie in der Quantenphysik handele es sich um eine Ebene, die man nicht sehen könne.

Bei allen möglichen negativen NTE, die ihren Einfluss über den schlechten Umgang mit Menschen zu Lebzeiten bekommen hätten, bleibe aber ein gefestigtes Gottesbild zurück: Gott bedeute bedingungslose Liebe und Akzeptanz. Gott lasse den Menschen auch nach dem Leben noch die freie Entscheidung und zwinge niemanden. Letztendlich würde Gott auch nicht richten oder bestrafen: In der Erfahrung mit dem Nahtod würden die Menschen sich eher schon selbst richten und ihr Leben beurteilen.

 

Jutta Schlinkmann-Weber (Caritas), Grace Konal (Gemeindereferentin) und Nathalie Pieper (KEFB) mit dem Referenten Prof. Dr. Andreas Neyer. Fotos: Frank Albrecht

Rund 130 Menschen folgten dem Referenten Prof. Dr. Andreas Neyer, der vom Arnsberger Netzwerk Leben mit dem Tod eingeladen worden war.