Es geht um mehr als um die Angst um sich selbst

Erstellt am 17.04.2020

In wenigen Wochen gehen Sie als Superintendent in den Ruhestand. Wie sehr bedauern Sie es, dass Sie Ihren Kirchenkreis in einer sehr schwierigen Phase zurücklassen müssen?

Sie haben Recht, diese Zeit ist nicht eigentlich was für den Wechsel in den Ruhestand. Das Virus hat ziemlich alles durcheinander gebracht. Aber andererseits zeigt sich gerade jetzt der Kirchenkreis stabil und auf dem Weg nach vorn. Oder vielmehr: gerade noch rechtzeitig  haben wir uns buchstäblich anhalten lassen, um dem Virus konsequent zu begegnen. Ich bin sehr beeindruckt, dass das so solidarisch gegangen ist. Hoffentlich setzt sich die verständnisvolle Solidarität auch fort!  Das bringt aber auch viel Verunsicherung mit sich. Auch Angst, die sich nicht genau festmachen lässt, weil man ja so vieles nicht wissen kann. Das ist schwierig. Zugleich entdecken wir, was doch irgendwie geht, noch oder schon. Es wird so viel ausprobiert. Ich finde das faszinierend. Das wird bei meinem Nachfolger Manuel Schilling in guten Händen sein. Insofern kann ich ganz gelassen abgeben.

In derart schwierigen Zeiten suchen die Menschen häufig Trost bei Gott. Wie sollen sie ihn finden, wenn Gotteshäuser verschlossen sind?

Gott zu finden, ist gar nicht leicht, obwohl Gott eigentlich überall ist. Vielleicht merkt man gerade jetzt, dass man es sich oft zu leicht gemacht hat. Als ob Gott sich durch das Praktizieren irgendwelcher Formen automatisch näher holen ließe. Über Gott haben wir noch nie verfügen können, auch nicht mit der schönsten Kirche und dem tollsten Gottesdienst. Gott habe ich am meisten gespürt, wenn ich wagte, mich mit leeren Händen hinzustellen. Ehrlich leer. Das kann ganz gewaltig zu sprechen anfangen. Oder so vorsichtig, dass man es oft erst ganz lange danach begreift. Trotzdem warte ich darauf, dass sich die Kirchen nicht nur für die persönliche Einkehr wieder öffnen, sondern für die Gemeinschaft des Feierns, des Hörens, des Betens, des Abendmahls. Das brauchen wir.

Wenn man in Supermärkten und Baumärkten Sicherheitsabstände organisieren kann – warum kann man das nicht auch in Kirchen oder bei Beisetzungen hinbekommen?

Natürlich kann man das - je nach örtlichen Gegebenheiten und Gepflogenheiten. Zunächst kam es darauf an, das aggressive Ansteckungspotential des Virus ernst zu nehmen. Wir mussten auch erst begreifen, dass vor allem die Risikogruppen in Kirchen und bei Beerdigungen zusammenkommen.  Dafür waren die strikten Maßnahmen unerlässlich und hilfreich und haben bei uns keinen Widerspruch ausgelöst. Diese Solidarität ist ein hohes Gut. Jetzt ist im kirchlichen Bereich das Gefährdungsbewusstsein wohl so hoch, dass ich mir begrenzte Öffnungen wünsche, die gleichwohl das Ansteckungsrisiko nicht erhöhen. Bedingung vor Ort wären allerhöchste Sorgfalt und Disziplin. Wo das nicht gewährleistet ist, müsste es beim strikten Verbot bleiben. Bislang aber liegt die Entscheidung bei der Landeskirche und nicht in unserem Ermessen.

Tragfähiger Glaube hilft

In Krisen wie diesen gibt es immer zwei Effekte: Die Menschen wenden sich zu Gott und dem Glauben hin oder sie verlieren angesichts der dramatischen Entwicklung ihren Glauben vollends. Was glauben Sie, welche Tendenz vor dem Hintergrund von Corona überwiegen wird?

Wir erleben diese Zeit wie in einem Trichter. Alles wirbelt auf uns zu, wir sind mitten drin und wissen nicht, wie wir unten herauskommen. Je nachdem, wo auf der Erde und zu welcher Zeit Menschen leben, gilt das für ihre Katastrophe jeweils auch. Darin sind wir uns nahe. Sie fühlen sich absolut getroffen, bedroht, verloren und sind es auch. Wir lesen oder hören, wie Menschen in solchen Situationen ihren Glauben als Halt gespürt haben. Schwach, zerbrechlich oft, aber doch etwas, was der unbestimmten Angst ganz unvernünftig entgegen wächst. Daraus ist meist das erwachsen, was hilft, die Katastrophe zu bewältigen. Vielleicht lässt sich Gott dann anders begreifen, und der Glaube ändert sich, ohne dass wir darüber verfügen können. Ob es mehr oder weniger wird, weiß ich nicht. Aber tragfähigen Glauben wird es geben.

Auf solch eine Entwicklung wie der in den letzten fünf, sechs Wochen kann man sich eigentlich nicht vorbereiten. Haben Sie die Evangelische Kirche und hier speziell den Kirchenkreis Soest-Arnsberg ausreichend gerüstet gesehen?

Bill Gates hat gesagt, er habe schon 2015 vor solchen Gefahren gewarnt. Und natürlich haben wir alle zigmal solche Warnungen gelesen und uns nicht vorbereitet. Trotzdem haben wir was richtig gemacht, auch im Kirchenkreis. Wir haben entschlossen und konsequent die Reformen durchgeführt, mit denen die Evangelische Kirche auch unter künftig erschwerten Bedingungen angemessen arbeiten kann. So mühsam der ein oder andere Schritt auch war, so helfen sie schon heute in erstaunlicher Weise, die Engpässe zu überbrücken, personelle Ausfälle auszugleichen, die Arbeit fortzusetzen. Wir haben den Rücken frei, andere und neue Formen und Techniken zu erproben. Wir holen zurzeit sogar auf im Nacharbeiten von Liegengebliebenem. Wir zeigen die Flexibilität, die die neu geordnete Zusammenarbeit in den Regionen und zwischen Kirchenkreis und Gemeinden ermöglichen sollte. Natürlich ist es sehr bedauerlich, Gottesdienste, Konzerte, Konfirmationen, Hochzeiten, Freizeiten, Bildungsveranstaltungen und so viel mehr absagen zu müssen. Damit geht viel verloren. Wie soll sich das nachholen lassen? Auch finanziell kann auch die Kirche für solch einen Fall nicht vorsorgen und nicht alle die auffangen, deren Einnahmen ausfallen. Das ist sehr bitter! Trotzdem können wir bislang zuversichtlich nach vorn schauen, weil wir vorsichtig und nachhaltig gewirtschaftet und geplant haben.

Differenzierte Konzepte

Viele Kirchengemeinden setzen auf digitale Angebote. Hat Corona eine Entwicklung vorweggenommen, mit der sich die Kirche ohnehin hätte beschäftigen müssen? Und was wird das ganz praktisch für den Kirchenkreis bedeuten?

 Ja, der digitale Ruck ist unübersehbar. Sagte ein Gemeindepfarrer verblüfft: „700 Klicks für meinen Video-Gottesdienst. Um so viele Leute zu erreichen, muss ich sonst viele Gottesdienste machen.“ Da entdecken sich die Gemeinden neu und anders. Plötzlich erleben technisch und digital Begabte, dass auch ihre Unterstützung in der Kirche gebraucht wird. Nach der ersten Schockstarre haben Videositzungen weite Verbreitung und auch den Segen der Landeskirche gefunden. Sie ersparen nun weite Wege, wie wir es als Auftrag an den vereinigten Kirchenkreis theoretisch schon seit Jahren formuliert, aber noch nicht umgesetzt hatten. Künftig wird es also differenzierte Konzepte für die Gremien geben, was leibhaftig und was digital stattfinden soll. Das wird auch für andere Formate gelten, auch für die Verwaltung. Vieles wird noch experimentiert oder erprobt. Manches ist ausdrücklich nur zur Überbrückung bestimmt. Da wird spannend sein, wie sich das Örtliche im entgrenzten virtuellen Raum behauptet. Auch stecken wir noch in den Kinderschuhen, was die digitale Interaktion und Partizipation der Gemeindeglieder und User angeht. Es bleibt zu hoffen, dass über die Krise hinaus dafür Kapazitäten und Kompetenzen bereit stehen.

Alle Experten sind sich einig: Unsere Welt wird künftig – zumindest vorläufig – eine andere sein. Wie wird sich Corona auf die Kirche und auch auf die Arbeit im Kirchenkreis auswirken?

Das wird von der Dauer der Krise abhängen und von ihrem globalen Verlauf, der ja jederzeit auf Europa zurückwirkt. Gern würden wir die Krise als demnächst überwunden ansehen, aufräumen und entschlossen nach vorn schauen. Noch besteht diese Hoffnung und daran arbeiten wir hart. Und wir versuchen, jetzt in der Krise Dinge zu lernen und uns damit vertraut zu machen, die uns nachher weiterhelfen. Außerdem gewöhnen wir uns daran, nicht so lange voraus planen zu können.

Viele andere Krisen – zum Beispiel die der Flüchtlinge – geraten aufgrund der omnipotenten Corona-Diskussion ins Hintertreffen. Wie kann Kirche da helfen?

Es ist wirklich erschreckend, wie viele Nachrichten aus der Öffentlichkeit verschwunden sind, weil überall Corona dominiert. Die Flüchtlinge im Kirchenasyl werden aber weiter betreut. Da wo keine Tafel mehr beliefert werden kann, sind wenigstens kleinere Hilfsaktionen in Gang. Viel geschieht im nachbarschaftlichen Füreinander, bewegende kleine Gesten der Aufmerksamkeit, der Rücksichtnahme und des Schutzes. Die diakonischen Beratungsstellen und Dienste haben viel zu tun. Uns fehlen sehr die üblichen Begegnungsräume, wo man sich austauschte, sich koordinierte, Aufmerksamkeit weckte und belebte. Nein, das ist für viele Menschen sehr schwierig, weil sie nicht gesehen werden und die Beschränkungen sie härter treffen. Und das, was wir am besten können, nämlich zu den Menschen hingehen, mit ihnen reden, Nähe zeigen, Gemeinschaft einfach so als belebend und als Würdigung erleben, das geht jetzt gerade nicht.

Gutschein für bessere Zeiten

In Psalm 23 heißt es: „Und ob ich schon wandere im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir?“ Können solche Botschaften auch in der heutigen Zeit noch helfen?

Die Bibel, besonders die Psalmen, findet Worte als Bilder, in denen die Seele spazieren gehen, schweben, tauchen, fliegen, ruhen kann. So unruhig oder schwer, so leicht oder leer,  hart oder entschlossen, zaghaft oder ängstlich sie sich auch gerade fühlen mag. Da stecken tiefste menschliche Erfahrungen drin, die jeder kennt. Darum spricht es auch heute an, aber nur, wenn man sich darauf einlässt. Die Worte mit ihren Bildern sind vielfältig. Manchmal auch widersprüchlich. Im Psalm 23 war es gerade noch die „grüne Aue“, jetzt das finstere Tal und gleich der gedeckte Tisch. Dazu wechseln auch unsere Assoziationen. Wo findet sich jetzt meine Seele wieder? Wo möchte ich jetzt gerade einen kleinen, aber vielleicht wichtigen Augenblick verweilen? Ist jetzt der Moment? Wenn nicht jetzt, wann dann und wie? Darin steckt das Bedürfnis, doch das Leben zu spüren, das für mich und für das ich bestimmt bin, das sich aus unerschöpflicher Quelle speist, die mir gut ist. Gott. Ja, das hilft auch heute. Außerordentlich.

Sehen Sie Lichtblicke? Gibt es Beispiele, die Ihnen Mut machen?

Eigentlich stecken in jedem Telefonat solche ermutigenden Elemente. Die Bereitschaft, sich auf Ungewohntes einzulassen! Total ermutigend. Der Mut, einfach das, was geht, weiter zu machen. Leute schreiben persönliche Briefe. Fangen an, Masken zu nähen. Kaufen für andere ein. Trinken per Video ein Bierchen miteinander. Finden doch noch einen Dreh für einen Auftrag an einen Selbstständigen. Kaufen einen Gutschein für bessere Zeiten. Verzichten einfach mal auf den ach so gewohnten politischen Streit, bei dem jeder sowieso schon weiß, worum es eigentlich geht. Und dass Europa und unsere föderale Republik so schnell so weit reichende Unterstützungsentscheidungen zu treffen vermögen, gehört auch zu dem, was ich ermutigend finde.

Mutige Kirche erlebt

Hätten Sie sich in den vergangenen Wochen manchmal eine mutigere Kirche gewünscht?

Ich sehe unsere Kirche oft sehr kritisch. Aber in den letzten Wochen hat sie mich erstaunt. Sie war ruhig und entschlossen. Selten haben wir auf landeskirchlicher Ebene so aufmerksam miteinander beraten. Selten waren wir so offen, aus Fehlern zu lernen, aufeinander zu hören, einander zu ermutigen und zu loben. Und wenn man die Entscheidungsgeschwindigkeit bedenkt, in der wir auf allen Ebenen von den Gemeinden bis zur EKD und umgekehrt weitreichendste Entscheidungen diskutiert, beschlossen, kommuniziert, umgesetzt, weiter differenziert oder präzisiert und wieder umgesetzt haben, davon kann ich nur mit Hochachtung reden. Welche Einsatzbereitschaft auf allen Ebenen, welche Solidarität mit denen, die gerade dann wegen Krankheit oder anderen Belastungen ausfallen mussten. Das war mutig!

Haben Sie das Gefühl, dass Evangelische und Katholische Kirche durch die Corona-Krise enger zusammengerückt sind; dass die Ökumene vielleicht sogar gefördert wurde?

Auch hier gilt die Feststellung, dass die normalen Begegnungsforen zurzeit wegfallen. Es trägt die seit langem erworbene Vertrautheit zwischen Kirchenkreis, Dekanaten und Klöstern und zwischen den Gemeinden, die Selbstverständlichkeit des Miteinanders. Absprachen geschehen, manches wird gemeinsam verantwortet, erprobt. Schaden nimmt die Ökumene nicht. Aber sie hofft auf das Wiederaufleben der persönlichen Begegnungen.

Angst ein schlechter Ratgeber

Sie selbst gehören mit 65 Jahren zu einer Risikogruppe. Haben Sie persönlich Angst vor dem Virus und wie gehen Sie mit dieser Angst um?

Angst ist nicht mein Ding. Obwohl ich sie sehr genau kenne. Ich habe den Eindruck, dass es jetzt um mehr geht als um die Angst um einen selbst. Wir sind ja nicht nur für uns selbst zuständig, sondern auch für die anderen. Meine Frau und ich, unsere Kinder jeweils an ihren Orten spüren und leben das, so gut wir können. Wir sind vorsichtig und versuchen, doch das Beste aus der Situation zu machen. Wir halten lebhaft Kontakt, spielen, essen, tanzen. Geht alles auch virtuell! Auch wenn uns vieles fehlt. Wir können nicht wissen, ab wann wir selbst die mögliche Infektion weitergeben, bevor wir eventuell durch Symptome etwas merken. Wissen nicht, ob und wann das die gefährdet, die sich um uns kümmern, wenn wir tatsächlich ernsthaft erkranken. Und die gefährdet, die uns brauchen. Ich bin sehr dankbar für unsere gesamtgesellschaftliche Anstrengung, dem Virus zu begegnen. Ich versuche, meinen Teil dazu beizutragen.

Interview

SOEST-ARNSBERG – In knapp sechs Wochen geht Superintendent Dieter Tometten (65) in den Ruhestand. Seinen Abschied hat er sich natürlich ganz anders vorgestellt, denn die Corona-Krise beeinflusst auch ihn und sine Arbeit im und für den Kirchenkreis Soest-Arnsberg. In einem Interview mit dem Öffentlichkeitsreferenten Hans-Albert Limbrock äußerst sich Tometten dazu, wie sehr ihn die Pandemie belastet, aber auch welche Lichtblicke er sieht.

Geht in sechs Wochen in den Ruhestand: Superintendent Dieter Tometten. Foto: Volker Kluft

Auch das ist ein Weg, um die Gemeindeglieder zu erreichen: Kirche zum Mitnehmen. Foto: Hans-Albert Limbrock

Die Krise als Chance: Die Evangelische Kirche hat in den vergangenen Wochen viele Wege gesucht und gefunden, um die Gläubigen zu erreichen – so wie Pfarrer Andreas Herzog von der Gemeinde Niederbörde, der aus seiner Digitalwarte im Schwefer Kirchturm online-Angebote sendet. Foto: Hans-Albert Limbrock