Wenn das Leben auf den Kopf gestellt wird

Erstellt am 29.01.2021

Von Hans-Albert Limbrock

SOEST – Dass ein Kind krank wird – todkrank… Dass seine Lebensperspektive sich in Wochen, Monaten, ja bestenfalls in wenigen Jahren definiert – nein, das möchte man sich nicht vorstellen müssen. Diesen Gedanken möchte man nicht an sich ranlassen; man möchte ihn verdrängen, weil er so unglaublich schmerzhaft ist.

Und doch gehört auch dieses für ganz viele Menschen zur bitteren Realität. Mehr als 50.000 Kinder und Jugendliche – das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Soest – haben in Deutschland eine Erkrankung, an der sie frühzeitig sterben werden. Für viele von ihnen und ihre Familien ist der „Ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst“ eine wertvolle Stütze. Allein vierzehn Familien werden aktuell im Kreis Soest von ihm betreut.

„Wir wissen“, so Koordinationsfachkraft Michaela Schulte, „dass der tatsächliche Bedarf auch im Kreis Soest vermutlich sogar noch größer ist.“ Doch nicht alle Familien trauen sich, die ehrenamtliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, weil das immer auch so etwas wie ein Eingeständnis ist, dass es keine Hoffnung mehr gibt; dass man quasi den Tod des eigenen Kindes als unausweichlich akzeptiert.

Michaela Schulte: „Wenn die Diagnose gestellt wird, reißt es den Familien den Boden unter den Füßen weg. Dann wird ihr gesamtes Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt.“ Die kompletten Zukunftsvorstellungen von Menschen werden mit einer solchen Diagnose zerschlagen. Die Lebenssituation verändert sich schlagartig. Der Alltag muss neu gestaltet werden und die Themen „Krankheit“, „Sterben“ und „Trauer“ überlagern von nun an den Alltag.

Seit über 30 Jahren ist der Deutsche Kinderhospizverein e.V. für diese Familien da. Seit Juli 2015 gibt es dieses Angebot auch im Kreis Soest. Damals hatte der Lions-Klub den Bedarf erkannt, die Gründung maßgeblich vorangetrieben und nachhaltig unterstützt. Michaela Schulte war praktisch von der ersten Stunde an dabei, zunächst ehrenamtlich. Inzwischen ist sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Carla Bieling als hauptamtliche Koordinations-Fachkraft tätig. Das Büro befindet sich in der Oestinghauser Straße 11 in Soest. Dort, wo früher die Volksbank eine Filiale unterhielt.

Von hier aus koordinieren die beiden Fachkräfte den Einsatz der aktuell 38 Ehrenamtlichen, die betroffene Familien begleiten und unterstützen und so für Entlastung sorgen, damit die Eltern wieder Kraft tanken oder gesunde Geschwister auch das notwendige Maß an Aufmerksamkeit bekommen, was häufig in Familien mit einem todkranken Kind zu kurz kommt. Fast alle, die diese Hilfe in Anspruch nehmen, erfahren dies als eine enorme Entlastung für die gesamte Familie.

Als gelernte Kinderkrankenschwester ist Michaela Schulte schon sehr früh mit den Themen „schwere Erkrankung und Tod“ konfrontiert worden. „Ich habe zuvor schon palliativ und auch in der Onkologie gearbeitet. Das ist praktisch mein Fachgebiet“, erklärt sie. Bereits während ihrer Zeit im Krankenhaus sei sie mit vielen unglaublich harten Schicksalen konfrontiert worden. „Das hat aber keineswegs dazu geführt, dass ich etwa abgestumpft bin“, sagt die Mutter von zwei (gesunden) Töchtern. „Aber es hat dafür gesorgt, dass ich mich dieser schwierigen Problematik mit einer gewissen Professionalität nähern kann.“

Wenn Eltern sich an den Verein wenden und um Unterstützung bitten, dann weiß Michaela Schulte in der Regel, welch leidvoller Weg bereits hinter ihnen und welch schmerzhafter Weg noch vor ihnen liegt. „Oft kommt solch eine Diagnose ja wie aus heiterem Himmel.“ Klar, irgendwas hat mit dem Kind zuvor nicht gestimmt; aber es denkt ja niemand gleich an das Schlimmste. Und dann - die Diagnose: „Ihr Kind hat nur eine begrenzte Lebenserwartung.“ Häufig ist das bei tödlichen Muskelerkrankungen oder Krebs der Fall. Schulte: „Ich habe allergrößten Respekt vor dem, was da auf Eltern zukommt.“ Einen Respekt, den die Ehrenamtlichen teilen und den sie auch mitbringen müssen, wenn sie Familien wirkungsvoll unterstützen wollen.

Und trotz dieser wahrlich schlimmen Schicksale versuchen die Ehrenamtlichen stets, den Familien auch immer ein Stück Leben zu geben. „So seltsam, wie das vielleicht auch klingen mag“, sagt Michaela Schulte, „aber es geht bei unserer Arbeit nicht immer nur um den Tod, um Trauer und Krankheit. Ganz viel dreht sich bei uns um das Leben, denn das geht ja trotz allem weiter – mit seinen traurigen, aber auch mit seinen schönen Seiten.“

 

Michaela Schulte ist Koordinations-Fachkraft des Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes Kreis Soest und koordiniert den Einsatz der Ehrenamtlichen, die Familien mit todkranken Kindern unterstützen. Foto: Hans-Albert Limbrock

Infobox

Der bundesweite „Tag der Kinderhospizarbeit“ macht jeweils am 10. Februar auf die Situation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit lebensverkürzender Erkrankung und deren Familien aufmerksam. Der Deutsche Kinderhospizverein (DKHV e.V.) als Initiator dieses Gedenktages, hat eigens dafür ein grünes Band entworfen, das inzwischen im gesamten Bundesgebiet eine hohe symbolische Bedeutung hat. Es steht als Zeichen für Hoffnung und dass sich immer mehr Menschen an die Seite der Kinder- und Jugendhospizarbeit und damit der betroffenen Familien stellen. Dieses grüne Band wird beim Kinder- und Jugendhospizdienst Kreis Soest in der Oestinghauser Straße 11, 02921/6725885, soestdontospamme@gowaway.deutscher-hinderhospizverein.de, abgegeben und kann als Zeichen der Solidarität mit betroffenen Eltern am 10. Februar zum Beispiel an Autos oder Fahrräder gebunden werden.