Mit Kraft und Feingefühl die Glocken singen lassen

Erstellt am 09.04.2021

Alles eine Frage der Technik. Bevor Bönner die Glocken singen und klingen lässt, muss er das Beiern vorbereiten.

Von Thomas Brüggestraße

SOEST - Ostersonntag, Punkt halb neun: „Erst mal umziehen, im schwarzen Anzug kann ich da nicht hoch!“ Günter Bönner verschwindet wieselschnell ins Petrus-Haus. Kurz darauf kommt er im Blaumann und in dicken Arbeitsschuhen wieder zurück, große Ohrschützer und Handschuhe hat er auch mit dabei: „Die werden wir brauchen, es wird laut…“

Die gewundene Treppe aus Stein geht es zeitig vor dem Gottesdienst den Kirchturm hinauf. Ein Aufnahme-Team wuselt durch den Chorraum: Immer noch ist Pandemie, und wegen Corona gibt es zum zweiten Mal den Oster-Gottesdienst nur als Live-Übertragung nach Hause zu den Menschen. „Traurig ist das alles“, seufzt Günter Bönner. „Soester Fehde werden wir wohl dieses Jahr auch nicht haben, oder?“

Es geht in den Turm hinauf, über unzählige, rutschig glatt getretene Stufen, die gefühlt viel zu niedrig sind für die Menschen von heute, danach über steile, schmale Holzstiegen zu den Glocken empor: Ostern, Pfingsten, Reformation – das sind die ganz besonderen Tage im evangelischen Kirchenjahr, da klingt es dann auch ganz besonders von Sankt Petri herab. Und weit, weit hinaus über die Dächer der historischen Altstadt geht die Kunde von der Auferstehung.

Nicht der gewaltige Zusammenklang aller Glocken beim freien Schwingen soll dies loben, vielmehr sind es präzise Glockenschläge für ein „Christ ist erstanden von der Marter alle“: Der älteste erhaltene liturgische Gesang in deutscher Sprache soll er sein, dieser festliche Choral, und Günter Bönner weiß, wie er die Glocken anschlagen muss, von denen er nur vier hat – und damit auch nur vier Tonhöhen, um das Thema zu treffen und in freier Improvisation zu umspielen. „Das ist eine Kunst für sich“, sagt Bönner: „Mit zwölf Glocken und zwölf Tönen wäre es natürlich einfacher, aber die haben wir nicht, und wir bräuchten dann auch noch Leute zum Helfen, um die Glocken alle anzuschlagen.“

„Beiern“ heißt diese Jahrhunderte alte Kunst aus dem Mittelalter. Es geht darum, die Klöppel in den Glocken auf so kurzen Abstand zum Schlagring zu fixieren, dass man sie über Handseile und Seile an Fußpedalen ansprechen kann, so, als würde man mit einem Hammer ganz kurz auf die Glocke schlagen. Das macht einen genauen Ton ohne langen Nachhall. So erklärt sich auch der Begriff, der sich laut Lexikon vom Altfranzösischen „baier“ ableitet, was „Anschlagen“ oder „Bellen“ bedeutet. Über das Flämische soll sich die Vokabel bis ins Rheinland und von dort aus weiter verbreitet haben.

In Soest und im Umland, da sei das „Beiern“ mit dem Zweiten Weltkrieg eingeschlafen, weiß Bönner aus seinen Nachforschungen: Im Krieg, da schmolzen sie die Glocken immer so gerne ein für Dinge, die man im Krieg so brauchte. Dabeihaben die Soester an Sankt Petri sogar noch Glück gehabt: Der aus der Barockzeit stammende mächtige Eichen-Bockstuhl mit seinen vier Feldern  bietet nicht ausreichend Platz zum Bugsieren: Nur die kleinste der vier Glocken konnten sie in den Kriegsjahren hinunterschaffen. So wurde 1918 die Leineweberglocke von 1801 eingeschmolzen von den Kaisertreuen, 1942 die Lutherglocke von 1933, was ja auch kein guter Jahrgang war.

Seit 1992 hängt jetzt die Taufglocke, deren Guss und Anbringung ein Jahr zuvor von „Hagen“ gestiftet worden war, mehr ist auf der Glockenhaube nicht zu lesen. Nicht angerührt wurden die Feuerglocke und die Petrus-Glocke von 1702 sowie die Bäckerglocke von 1711, alle drei gegossen von Johann Georg de La Paix und Bernhard Wilhelm Stule nach dem Turmbrand am 12. März 1702.

Günter Bönner ist inzwischen hindurchgetaucht zwischen den dicken Eichenbalken. Die Elektrik ist abgeschaltet, seine Anlage für den Anschlag von Hand aufgebaut: Eine stabile Gliederkette fixiert die Glockenklöppel in Position. „Einen Fingerbreit vor dem Schlagring“, erklärt Bönner, und reckt sich schon an der nächsten Glocke nach dem Klöppel: „Ist schon mit ein wenig Kraftaufwand verbunden“, sagt er: Kein Wunder, die Bäckerglocke, die er gerade an die Kandarre nimmt, sie wiegt mal eben 1,6 Tonnen und klingt mit einem eingestrichenen cis. Die Nachbarn klingen eingestrichen gis (Taufglocke), h (Feuerglocke) und eingestrichen e (Petrusglocke). Sobald die Schraubzwingen an den Klöppeln die Schlaufen der Gliederketten am Fallen hindern, kann es an die weitere Feinarbeit gehen. Petri-Küster Friedhelm Overbeck ist inzwischen auch hinaufgekommen und hilft mit bei den letzten Handgriffen.

Um Punkt halb zehn soll die frohe Kunde klingen: „Christ ist erstanden.“ Das klappt – und draußen, auf dem Platz vor der Post, da haben schon drei, vier Leute eine Kamera auf einem Dreibein in Stellung gebracht und ihre Handys gezückt. Eine Seniorin schiebt ihren Rollator übers Pflaster vorm Rathaus, bleibt stehen und reckt genauso beglückt den Kopf in die Höhe wie Pfarrer Bernd-Heiner Röger, der just in diesem Moment aus dem Petrus-Haus tritt, festlich im schwarzen Talar, das Bäffchen strahlend weiß gewaschen und gestärkt: „Oh schön, es wird gebeiert“, sagt er anerkennend in eine Pause hinein und ist flugs dem Blick entschwunden.

Günter Bönner sitzt derweil auf einem Balken hoch oben im Kirchturm, direkt an der schweren Feuerglocke mit ihren 2,6 Tonnen Gewicht, er zieht mit dem linken Arm an einem Seil, dann mit dem rechten an einem anderen, über die beiden Fußpedale steuert er die verbliebenen zwei Glocken an. „Einiges ist möglich bei diesem Spiel“, hat er vorher erklärt: „Von feinsten Pianissimo über ein gefühlvolles Crescendo bis zum vollmundigen Fortissimo – jeder Ton lässt sich ausgestalten und regulieren, das ist die Kunst dabei.“

Gerne, auch das gibt Bönner mit auf den Weg, gerne fände er mehr, die sich ernsthaft für diese schöne Kunst interessieren, bevor dieser alte Brauch hier in der Region noch mehr in Vergessenheit gerät. Er würde gerne Hilfestellung geben. Mit Glanz in den Augen erzählt Günter Bönner von den beiden Glockenkonzerten 2016 und 2018 in der Stadt, von den Freunden in Westönnen, die auch beiern, von den Anfängen in Schwefe, davon, wie er Pastor Schütz nach dem Aufhängen der Taufglocke in der Petrikirche das Beiern vorschlug und sofort (buchstäblich) Gehör fand. Beigebracht habe er sich alles selber und viel dazu in alten Berichten nachgelesen.

Zehn Minuten hat es wünderschön geklungen über die Dächer der Soester Altstadt hinweg, weit hinaus in die Börde – in einen etwas nassgrauen Ostersonntag hinein. Was soll man sagen: Es kann nur besser werden! Ein Wiederhören gibt es zu Pfingsten, dann mit einer schönen Improvisation.

Gelernt ist gelernt: Günter Bönner hat sich Kunst des Beierns selbst beigebracht und über die Jahre stetig perfektioniert. Fotos: Thomas Brüggestraße

Mehrere Tonnen wiegen die Glocken; die müssen erst einmal in Schwingung gebrach werden.