Nähe gibt es nicht digital

Erstellt am 09.04.2021

SOEST - „Er redet nicht mehr mit mir“, sagt Carla. „Ich habe schon alles versucht. Was soll ich bloß machen?“ Die Kursteilnehmerin ist heute in die Rolle einer alten Dame geschlüpft, deren Mann seit einer Woche in einem Hospiz ist. Der Seminarraum im Christlichen Hospiz Soest ist lichtdurchflutet und die Sonne strahlt warm durch die offene Terrassentür. Es ist einer der ersten Frühlingstage im März. „Du bist eine wirklich gute Schauspielerin“, lacht Rüdiger und wird dann ernst. Er fragt nach möglichen Gründen für das Schweigen: „Ist es möglich, dass Ihr Mann Angst hat und Sie schützen möchte? Wie haben Sie früher in schwierigen Situationen kommuniziert?“

Rollenspiele wie dieses laden dazu ein, den Blickwinkel zu wechseln und Krankheit oder Tod aus den Augen eines Hospiz-Gastes oder Angehörigen zu sehen. Sie sind ein wichtiger Baustein in der Ausbildung zur Sterbebegleiterin oder zum Sterbebegleiter, an der Carla und Rüdiger gemeinsam mit Gertrud, Karin und Roswitha teilnehmen. Heute ist der letzte Tag des sogenannten „Befähigungskurses“, nach dem alle ein Zertifikat erhalten. An insgesamt sechs Wochenenden haben sich die Teilnehmenden auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. Es ist der erste Kurs seit dem Beginn der Corona-Pandemie, weitere sollen folgen.

Ehrenamtskoordinatorin Martina Kaupen ist erleichtert, dass Freiwillige das Soester Hospiz endlich wieder unterstützen dürfen. Hauptamtlich Mitarbeitende sind bereits geimpft, demnächst sind die Ehrenamtlichen dran. „Die Pandemie hat uns viel abverlangt“, sagt Kaupen. Freiwillige Helferinnen und Helfer durften nicht mehr zum Hospizdienst antreten. Da auch Besuche von Angehörigen nur noch eingeschränkt möglich waren, lastete die gesamte Verantwortung auf den Schultern der Hauptamtlichen und Seelsorger. „Es ist eine große Lücke entstanden. Ehrenamtliche sind eine tragende Säule in der Hospiz-Arbeit und unersetzlich.“

Im Hospiz schenken Ehrenamtliche Zeit und Nähe. Ein Händedruck und ein offenes Ohr vermitteln: „Du bist nicht allein.“ Manche Gäste und Angehörige wollen reden, andere gemeinsam schweigen. Es geht auch darum, individuelle Wünsche zu erfüllen. Das kann zum Beispiel ein Ausflug zu einem speziellen Ort sein oder Unterstützung bei einem Gespräch. Früher gab es gemeinsame Koch- oder Grill-Abende, und zur Taufe eines Gastes im Hospiz kamen kurz vor Beginn der Pandemie 40 Angehörige. Mit Carla und Rüdiger kehrt nun ein Stück Normalität zurück.

Im Bekanntenkreis stößt die Arbeit von Ehrenamtlichen auf Bewunderung, manchmal auf Ablehnung. Viele können sich nicht vorstellen, Menschen während ihrer letzten Tage zu begleiten. „Mir wäre das zu heftig“, lautet die Reaktion vieler. Dennoch arbeiten in Deutschland rund 120.000 Menschen in der Hospiz- und Palliativversorgung, die meisten von ihnen freiwillig. Der Alltag erfordert emotionale Stärke, aber auch Mut und Neugier. Was sich viele zunächst nicht vorstellen können: Hospizarbeit bringt auch viel Freude.

„Ja, man bekommt viel zurück“, bestätigt Rüdiger. „Im Kurs habe ich viel über mich selbst erfahren und tolle Menschen kennengelernt. Der Austausch hat uns alle tief miteinander verbunden.“ Rüdiger ist Rentner und hat lange überlegt, welches Ehrenamt für ihn geeignet sein könnte. Eine Tätigkeit im Hospiz stand zunächst an letzter Stelle. „Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das emotional nicht würde verdauen können“, sagt er. Doch dann sah er eine Fernsehdokumentation über Hospiz-Arbeit und stellte fest: „Das hier ist ganz nah am Menschen.“ Jetzt ist er froh, in seiner Freizeit etwas Sinnvolles tun zu können.

Etwas Sinnvolles tun – darauf freut sich auch Carla. „Ich habe mich schon länger mit dem Thema Tod beschäftigt“, sagt die 26-Jährige. Das Interesse an Hospiz-Arbeit entwickelte sich bei ihr während der Corona-Pandemie, als sie nicht untätig zu Hause sitzen, sondern etwas bewegen wollte. Nach einem Beratungsgespräch mit Ehrenamtskoordinatorin Martina Kaupen meldete sie sich zum Kurs an. Sie ist sich sicher: „Hier passe ich hin, hier fühlt es sich richtig an.“

Kursleiterin Ursula Elisa Witteler sieht ihre wesentliche Aufgabe darin, die Kursteilnehmenden in ihrem Entschluss, im Hospiz zu arbeiten, zu stärken und spricht deshalb lieber von einem „Ermutigungs-“ statt einem „Befähigungskurs“. Gemeinsam mit Witteler finden die Teilnehmenden heraus, was sie zur Hospiz-Arbeit motiviert. Sie befassen sich auch mit ihren Einstellungen zu Krankheit und Tod.

„Wer sich selbst gut kennt, kann sich von der eigenen Denkweise distanzieren und andere besser begleiten“, erklärt Witteler. „Es entsteht Raum für die Bedürfnisse von Gästen und Angehörigen.“ Im Kurs geht es auch um den Umgang mit Demenz-Kranken, um Trauer, Glaube und Spiritualität. „Es ist wichtig, seine Grenzen kennenzulernen und bei Problemen das Gespräch zu suchen“, sagt Witteler. Deshalb steht auch das Thema „Selbstpflege“ auf dem Programm.

Keiner ist nach einem Befähigungskurs dazu verpflichtet, im Hospiz zu arbeiten. Doch die meisten wollen loslegen – auch Carla und Rüdiger. Sie freuen sich darauf, ihre eigenen Ideen ins Hospiz zu bringen und ihre Stärken zu entwickeln. „Mit dem Ende des Kurses stehen wir am Anfang“, sagt Carla. „Doch ich fühle mich gut vorbereitet und bin neugierig auf das, was kommt.“

Sie haben Interesse an ehrenamtlicher Hospiz-Arbeit? Im nächsten Kurs am Christlichen Hospiz Soest gibt es noch freie Plätze. Die durch Spenden finanzierte Ausbildung zum/r Sterbebegleiter/in findet ab dem 16. April an insgesamt sechs Wochenenden statt. Interessierte können sich unter 02921-66074-60 oder info@hospiz-soest.de informieren.

Carla Stelzer (links) mit Kursleiterin Ursula Elisa Witteler und Rüdiger Baumann.

Ehrenamtliche ermöglichen es den Hospiz-Gästen, in Würde zu sterben.