Corona hat mich seelisch erschöpft

Erstellt am 21.05.2021

Seit einem Jahr ist Dr. Manuel Schilling als Superintendent im Kirchenkreis Soest-Arnsberg im Amt; liebend gerne hätte er in möglichst vielen Kirchengemeinden gepredigt. Doch das hat Corona bisher nicht zugelassen. Fotos: Hans-Albert Limbrock

SOEST – Seit über einem Jahr hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Eigentlich denkbar schlechte (Start)-Voraussetzungen für Dr. Manuel Schilling, der Anfang Juni seit einem Jahr im Amt ist als Superintendent des Kirchenkreises Soest –Arnsberg ist. Warum er dennoch eine positive Bilanz unter die ersten zwölf Monate zieht und welche Herausforderungen er aktuell sieht, erklärt er in einem Interview mit Öffentlichkeitsreferent Hans-Albert Limbrock, das die UK in drei Folgen veröffentlicht.

Starten wir mal positiv: Was hat Ihnen in diesem ersten Jahr bisher so richtig viel Freude bereitet?

Es sind die Menschen, ob in Soest im Kreiskirchenamt oder in den Gemeinden vor Ort, ob bei Sitzungen oder in Andachten, ob in der Börde oder im Hochsauerland – die Menschen sind mir offen und freundlich entgegengekommen und haben meine völlige Ahnungslosigkeit akzeptiert. Vor allem die Geschwister im Pfarrdienst schenken mir ein Vertrauen, das mich überwältigt. Ich habe schon unzählige Einzelgespräche mit den Pfarrerinnen und Pfarrern geführt – und immer noch fehlt mir fast ein Drittel. Diese Momente zu zweit sind gülden, ganz kostbar und fragil zugleich, gerade wenn sie per Video-Konferenz passieren. Es ist unglaublich, welche Emotionen durch den Bildschirm getauscht werden können. Der Geist Gottes weht, wo er will.

Als Sie sich im Herbst 2019 als Superintendent für den Kirchenkreis beworben haben, war Corona ein Fremdwort, als sie im Januar gewählt wurden allenfalls eine ferne Ahnung. Jetzt sind Sie seit einem Jahr im Amt und vermutlich hat es keinen Tag gegeben, an dem Corona keine Rolle gespielt hat. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Zunächst hat es ja das große Fest von Dieter Tometten und mir zerschossen. Nix mit Festgottesdienst und Empfang im Blauen Saal. Wir haben umgekehrt einen Schuh draus gemacht und das digitale Experiment von „Abschied und Neubeginn“ in der Wiesenkirche mit Videocollagen und Handy-Aufnahmen gemacht – durchaus ein berauschender Beginn. Dann kam ein fast „normaler“ Sommer. Der zweite Lockdown mit der kurzfristigen Absage aller Weihnachtsgottesdienste hat mich – und ja noch viel mehr die Menschen in den Gemeinden vor Ort – brutal getroffen.

 

Hat das auch zu einer gewissen Erschöpfung geführt?

Absolut. März und April fand ich persönlich hart, weil meine seelischen Widerstandskräfte schmolzen. Um es zusammenfassend zu sagen: Corona kam mir anfangs vor wie ein surreales großes gesellschaftliches Experiment, wie eine Art gigantisches Dschungelcamp. Alle erfinden sich neu. Dieses globale Experiment fügte sich in meinen Neustart hier in Soest-Arnsberg ein. Am Ende bin ich seelisch abgerieben und erschöpft. Corona hat mich nicht klein gekriegt, aber es hat mich erschöpft. Ich kenne jetzt noch besser als vorher meine Grenzen. Das ist doch wiederum eine gute Erkenntnis.

Welche größte Hürde hat die Pandemie in den vergangenen zwölf Monaten für Sie und Ihre Arbeit aufgebaut?

In den Monaten zwischen der Wahl im Januar und dem Dienstantritt im Juni hatte ich davon geträumt, an jedem Sonntag in eine andere Gemeinde zu fahren und dort den Gottesdienst zu besuchen, Menschen zu sprechen und ab und zu auch mal zu predigen. Stattdessen habe ich wie eine Spinne unbeweglich im Büro gehockt und per Zoom Menschen zweidimensional gesehen. Es ist nicht übertrieben, wenn ich kalkuliere: von den weit über hundert Mitarbeitern, für die ich verantwortlich bin, und mit denen ich schon sehr intensive Gespräche haben führen können, habe ich mindestens die Hälfte noch nie physisch real  gesehen, sondern nur per Bildschirm.

Auch Sie werden Tage großer Niedergeschlagenheit – vielleicht sogar Mutlosigkeit - erlebt haben,  was hilft Ihnen dann?

Ja, die gibt es, obwohl ich eigentlich mit einem ziemlich robust fröhlichen Charakter gesegnet bin. Gestern war so ein Abend. Ein langer Tag, die Hälfte der Termine nicht wirklich sinnvoll, oder umgekehrt ich war den Terminen und den Leuten nicht gerecht geworden. Bist du der Richtige für diesen Job? Die Kinder kriegen von ihrem Vater nichts mit, und die Frau hat die meiste Last zu tragen. In solchen Momenten hilft mir: mit meiner Frau ein kleines Glas Rosé trinken, während ich die Zwiebeln für das Abendessen schnippele. Und vor dem Schlafengehen auf dem Sofa klassische Musik hören. Derzeit ist es die „Missa Solemnis“ von Beethoven. Das „Agnus Dei“ kurz vor Schluss, diese unendlich traurigen Klänge hauen mich vom Hocker.

Was haben Sie bisher am meisten vermisst?

Mich mit den vielen netten Leuten, die ich auf den Zoom-Kacheln kennen gelernt habe, zwischen Tür und Angel zu treffen und Small Talk zu treiben. Und mit manchen Kolleginnen und Kollegen würde ich schon gerne mal auf einer Terrasse an einem lauen Abend ein Glas Wein trinken.

 

Digitale Formate sind in der Kirche zunehmend in den Mittelpunkt gerückt und werden mit unterschiedlicher Qualität und Intensität gepflegt. Eine vorübergehende Modeerscheinung, die mit dem Verschwinden von Corona ebenfalls wieder verschwinden wird oder eine echte Chance für Kirche?

Jetzt ist der Moment gekommen, den Kirchengemeinden, den PfarrerInnen und Pfarrern und den vielen Ehrenamtlichen zu danken für das unglaubliche Engagement, das sie in den letzten vergangenen zwölf Monaten an den Tag gelegt haben. Es ist nicht zu wenig gesagt, wenn man feststellt, dass sich die evangelische Kirche medial völlig neu erfunden hat: In der Verkündigung, in der Jugend- und Konfirmandenarbeit, in der Seelsorge. Und das immer mit der schleichenden Sorge im Rücken: vielleicht klappt es nicht, vielleicht nimmt das niemand an, vielleicht setzen wir medial auf das falsche Pferd. Und ich habe den Eindruck, dass in vielen Gemeinden dieses Engagement der Verantwortlichen dankbar  wahrgenommen wird. Ich bin zuversichtlich, dass die positiven Erfahrungen weiter tragen und viele neue digitale Angebote weiter gepflegt und ausgebaut werden. Zugleich ist die Kirche die alte geblieben. Die digitalen Formate sind nicht der Jungbrunnen und nicht das Allheilmittel für die Kirche in der Krise. Allerdings ist es eine wichtige Möglichkeit, mit den Menschen unserer Zeit in Kontakt zu treten.

In der nächsten Ausgabe spricht Superintendent Schilling über die größten Herausforderungen in den kommenden fünf Jahren und über das, was ihm zunehmend Sorge bereitet.

 

 

 

Hat Corona die Menschen vom Glauben entfernt oder bekommt der Glaube an Gott gerade durch eine solche Krise eine tiefere Bedeutung, wird vielleicht sogar neu definiert?

Das ist schwer zu sagen. Anfänglich in der ersten Schockstarre vor einem Jahr hatte ich den Eindruck, dass nicht wenige Menschen reflexhaft und traditionell nach Trost bei der Kirche suchten. Als wir uns an Corona gewöhnt hatten, sank dieses Bedürfnis nach der Kirche. Bei der Steuerung der Krise haben Politiker, Mediziner und Ökonomen das Wort geführt. Theologie und Kirche waren unwichtig. Indiz dafür ist, dass wir SeelsorgerInnen ziemlich spät mit PodologInnen und FriseurInnen in die Impfgruppe genommen wurden. Aber statt über die ach so desinteressierte Welt zu schimpfen, frage ich, ob wir als Kirche etwas Substantielles zu sagen hatten? Zuweilen hatte ich das Gefühl, wir in der Kirche bieten weder genügend Raum für die Klage und den Zorn gegenüber Gott, noch sprühte unsere Verkündigung von der Freude über die Lebendigkeit Gottes, der allem, wirklich allem Leid ein Ende setzen wird. Auch Corona.

„Corona kam mir anfangs vor wie eine Art gigantisches Dschungelcamp“