Die Zerbrechlichkeit des Lebens

Erstellt am 28.05.2021

Geschäftsführer Christian Schug und Chefarzt Prof. Dr. Andreas Meißner. Fotos: Hans-Albert Limbrock

 

Von Hans-Albert Limbrock

SOEST – Zahlen, immer nur Zahlen: R-Wert, Inzidenzwert, Gestorbene, Genesene, Geimpfte. Fast kann man den Eindruck bekommen, Corona sei eine Erfindung von Statistikern und Mathematikern. Doch das stimmt natürlich nicht. Hinter diesen Zahlen stehen Schicksale, menschliche Schicksale. Hinter diesen Zahlen stehen Trauer und Verlust, Leid und Elend.

Superintendent Dr. Manuel Schilling und Propst Dietmar Röttger wollten es genauer wissen und haben deshalb das Klinikum Stadt Soest und das Marienkrankenhaus besucht, um mit Ärztinnen und Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern und Verwaltungsmitarbeitenden ins Gespräch zu kommen.

Es waren berührende Gespräche, intensive Gespräche. „Das ist unter die Haut gegangen“, bilanzierte Manuel Schilling. Und Propst Röttger ergänzte: „Die Menschen, die in den Krankenhäusern arbeiten, wissen natürlich grundsätzlich, dass Tod zum Leben gehört. Aber in den vergangenen Monaten haben sie das besonders intensiv erfahren. Da wird einem besonders deutlich die Zerbrechlichkeit und Begrenztheit des Lebens vor Augen gehalten.“

Ein kleines Wunder

Es waren Geschichten, wie sie Sandra Gockel, Leiterin Intensivpflege Marienkrankenhaus, erzählt hat: Da war da der 50-jährige Familienvater, vier Kinder. Ihm ging es zunehmend schlechter. Krankenhäuser in der näheren und weiteren Umgebung, die in der Intensivpflege noch besser ausgestattet waren, haben abgewunken: „Keine Chance mehr auf Heilung.“ Aber damit wollte man sich im Marienkrankenhaus nicht zufrieden geben: „Wir haben um den Mann gekämpft, jeden Tag.“ Dass sie den scheinbar aussichtslosen Kampf gewonnen haben, betrachtet das Team um Professor Dr. Markus Flesch als ein kleines Wunder. „Als der Patient entlassen werden konnte, hatten alle Tränen in den Augen. Das war ein unbeschreiblicher Glücksmoment“, berichtet Sandra Gockel.

Inzwischen hat sich die Lage auf den Covid-Stationen und den Intentivstationen in den beiden Soester Kliniken entspannt. Es gibt deutlich weniger Patienten, die intensiv gepflegt oder künstlich beatmet werden müssen. Pflegedirektor Martin Krampe (Marienkrankenhaus): „Wir alle haben in den vergangenen Monaten einen enormen Druck aushalten müssen. Dass die Zahlen aktuell zurückgehen, hilft uns natürlich. Aber wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Corona ist ein Gegner, den man nicht sieht. Das macht es so gefährlich.“

Dass man die Herkulesaufgabe so gut bewältigt habe, liege in erster Linie daran, dass alle Mitarbeitenden ganz eng zusammengerückt seien und sich den Herausforderungen gestellt haben, berichtet Professor Flesch: „Wir haben hier einen unglaublichen Teamgeist entwickelt.“

Tägliche Herausforderung

Das kann auch das Klinikum für sich in Anspruch nehmen. Geschäftsführer Christian Schug: „Für uns alle war das gewissermaßen ja in gewisser Weise ein Blindflug. Jeder Tag war eine Herausforderung, jeder Tag hat uns neue Aufgabe gestellt.“  

Wie man sich diesen Herausforderungen Tag für Tag neu stellt, ohne zu verzweifeln, ohne zu zerbrechen? „Ganz einfach“, sagt Intensivpflegerin Rena Deckert, „weitermachen, immer weitermachen. Wir haben doch gar keine andere Wahl.“

Die vergangenen Monate, so Schug, hätten dabei noch einmal deutlich gemacht, wie dramatisch der Mangel an Pflegekräften bundesweit sei. „Wir können nur hoffen, dass daraus die notwendigen Schlüsse gezogen werden und der Beruf und seine Bedingungen attraktiver gemacht werden.“

Der Beifall von den Balkonen, der zu Beginn der Pandemie jeden Abend gespendet wurde, sei zwar ganz nett, mehr aber auch nicht. Sandra Gockel: „Ich persönlich habe nichts davon, wenn man mir applaudiert.“ Ihr Kollege Klaus Drepper hofft, dass die Pandemie dazu beitrage, dass der Pflegeberuf nun in den Blickpunkt rücke und dafür auch politisch die richtigen Weichen gestellt würden: „Das ist dringend notwendig.“

 Einladung an Kliniken

Superintendent Dr. Manuel Schilling und Propst Dietmar Röttger haben aus dem Austausch mit den beiden Krankenhäusern viele Erkenntnisse mitgenommen, die man auch in die Bewertung der Rolle der Kirchen während der Pandemie einfließen lassen werde. „Die letzten Monate“, so Röttger haben uns alle angespannt. Viele sind gereizt, dünnhäutig, ja sogar aggressiv geworden. Da gibt es sicherlich einiges aufzuarbeiten.“

Im Herbst, sollte es die Corona-Entwicklung zulassen, wollen die beiden Kirchen die Mitarbeitenden von Klinikum und Marienkrankenhaus, die auf den Covid-Stationen arbeiten, zu einem Konzert in der Petrikirche oder im Patrokli-Dom mit anschließendem Empfang einladen. Schilling: „Als Anerkennung und Dankeschön für die unglaubliche Arbeit, die sie alle geleistet haben und ganz sicher auch noch weiter leisten werden.“

 

Das Marienkrankenhaus verfügt über 301 Patientenbetten und 820 Mitarbeiter. Bis Anfang Mai wurden 270 positive Patienten und 1362 Patienten mit Verdacht auf Covid 19 behandelt. 87 Patienten lagen auf der Intensivstation. 27 Menschen sind an oder mit Covid verstorben.

Im Klinikum mit seinen knapp 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurden im gleichen Zeitraum 130 Covid-Erkrankte behandelt.

Sandra Gockel: „Ein unbeschreiblicher Glücksmoment.“

Rena Deckert: „Einfach immer weitermachen.“