Morde und Zwangssterilisationen auch im Sauerland

Erstellt am 07.01.2022

Von Andreas Dunker

Arnsberg-Voßwinkel. „Krieg gegen das eigene Volk – Opfer von Euthanasie, Zwangssterilisation und Justiz in einem Dorf im Sauerland“ – unter diesem Titel präsentiert der Heimatforscher Michael Filthaut Forschungsergebnisse eines Projektes des „Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel“. Im Rahmen der Veranstaltung erinnerte man dabei an die „vergessenen“ Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945, die sich auch vor Ort grausam auswirkte.

 „Morde und Zwangssterilisationen hat es in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur in größeren Städten, sondern auch im ländlichen Raum gegeben“, bilanzierte Filthaut, der sich seit zwei Jahren im Rahmen intensiver Archivrecherchen mit dem Thema befasst hat. Exemplarisch verdeutlichte er das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen anhand von drei dokumentierten Fällen aus Voßwinkel.

Bedrückende Erkenntnisse

„Wir wollen den Opfern ein Gesicht geben, werden aber mit Rücksicht auf deren Familien keine Nachnamen nennen“, erklärte Michael Rademacher als Vorsitzender des Voßwinkeler Arbeitskreises in seiner Begrüßung der rund 50 Besucher des Vortrags im katholischen Pfarrheim, der am 30. Januar um 16.30 Uhr nochmals wiederholt werden soll, da es mehr Anmeldungen als Plätze gab. Rademacher warnte die Zuhörer, dass das Ergebnis der historischen Forschung leider äußerst „bedrückend“ und in vielen betroffenen Familien „bis heute ein Tabu-Thema“ sei.

Die stellvertretende Bürgermeisterin Margit Hieronymus, die die Stadt Arnsberg vertrat, lobte in ihrem kurzen Grußwort ausdrücklich die Initiative der Voßwinkeler Heimatforscher zur Aufarbeitung der örtlichen Historie während des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Der Arbeitskreis bringe durch seine akribischen Forschungen endlich Licht in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte auf lokaler Ebene. Damit habe man einen enormen Erkenntnisgewinn für die Arnsberger Stadtgeschichte. Es sei ein Vorbild auch für andere Ortsteile.

Im Bundesarchiv entdeckt

Der Weg zu einem so wichtigen Teil der Voßwinkeler Dorfgeschichte habe seinen Beginn im Bundesarchiv, erklärte Michael Filthaut als stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises und Referent des Abends. „Erst mit der Übergabe einer Opfer-Akte durch einen Angehörigen vor etwa zwei Jahren, die dieser aus dem Bundesarchiv in Berlin angefordert hatte, fanden wir Ansätze für umfangreiche Recherchen in diesem und verschiedenen anderen Archiven.“

So zeigte Filthaut in seinem Vortrag am Beispiel des Voßwinkeler Dorfbewohners „Josef“ das Verfahren einer Zwangssterilisation auf.

Einem weiteren Mann namens „Josef“, einem „Franz“ und dem nur acht Jahre alten „Paul“ aus Voßwinkel brachten vermeintliche Therapien in den Heilanstalten Warstein beziehungsweise Niedermarsberg nur Unheil: Die behinderten bzw. kranken Menschen waren nach der nationalsozialistischen Ideologie „unbrauchbar“. Nicht arbeitsfähig wurden sie nur als Kostenverursacher für die „Volksgemeinschaft“ angesehen. Im Rahmen staatlicher Tötungsprogramme wurden sie deshalb ihren Familien entrissen und als „lebensunwertes Leben“ ermordet.

Die beiden erwachsenen Männer kamen in der Tötungsanstalt Hadamar im heutigen Hessen ums Leben und der achtjährige „Paul“ wurde in einem dreitägigen Transport in engen Viehwaggons der Reichsbahn nach Meseritz (heute: Polen) gebracht.

Schrecklicher Leidensweg

Den persönlichen Leidensweg aller drei Voßwinkeler zeichnete Filthaut in seinem Vortrag so weit wie möglich nach. Deutlich machte er dabei auch, wie die nationalsozialistische Diktatur sogar Hebammen, Ärzte und Lehrer zu Denunzianten, Mittätern und Erfüllungsgehilfen ihrer menschenverachtenden Rassenideologie machten.

 Michael Filthaut zeigte in seinen sachlichen Ausführungen auf, wie die nationalsozialistische Bürokratie die betroffenen Familien mit gefälschten Sterbedaten und Todesorten täuschten, um ihre perfiden Taten zu verschleiern. Nach der Ermordung der teils behinderten und kranken Opfer wurde auf der entsprechenden Akte der Vermerk „Erledigt“ angebracht.

Wenn Eltern oder andere Familienmitglieder eventuell Verdacht geschöpft und Zweifel am natürlichen Tod ihrer Angehörigen geäußert hätten, wären sie sofort mit Repressalien bedroht worden, um sie zum Schweigen zu bringen, berichtete Filthaut. Zudem sei auch der Bevölkerung in den Orten mit den vermeintlich therapeutischen Heilanstalten und den Tötungseinrichtungen die Gräueltaten der Nationalsozialisten offenbar nicht verborgen geblieben. Denn viele Patienten hätten eine Vorahnung des ihnen drohenden Schicksals gehabt und sich auf den Transporten in den Tod lautstark gewehrt. Außerdem hätten nach der Ermordung der Opfer in den Einrichtungen die Schornsteine der angeschlossenen Krematorien tagelang geraucht, wo die Leichen verbrannt und eingeäschert worden seien.

„Erst durch öffentliche Kritik einiger Kirchenvertreter wurde die 1940 begonnene zentral gesteuerte Tötungsaktion durch Vergasen im August 1941 wieder eingestellt. Doch danach ging das Morden dezentral unter anderem durch Giftspritzen, Über- oder Unterdosierung von Medikamenten sowie unzureichende Nahrung weiter“, berichtete Filthaut.

Grausame Verbrechen

Möglich seien diese grausamen Verbrechen durch die nationalsozialistische Pseudowissenschaft von „Erbgesundheit und Rassenhygiene“ geworden. Danach zählte nur die arische Rasse, der Herrenmensch oder der „neue Deutsche“ als lebenswert. Diejenigen, die nicht in das neue „System“ passten – wie Juden, Nicht-Arier, Schwule und Lesben, Sinti und Roma, Kranke und Behinderte, Alkoholiker sowie andere angeblich „nicht brauchbare“ Menschen und Andersdenkende – wurden in „Irrenanstalten“ weggesperrt und größtenteils umgebracht.

Vermeintlich „Erbkranke“ wurden zudem durch Bestrahlungen oder Operationen – teils ohne Narkose – zwangssterilisiert und unfruchtbar gemacht. Dabei seien auch Vertrauenspersonen wie Hebammen und Ärzte missbraucht worden, die körperlich Behinderte und geistig Kranke hätten melden müssen, so der Voßwinkeler Heimatforscher.

Auch Lehrer hätten den zuständigen nationalsozialistischen Stellen wie beispielsweise dem Erbgesundheitsgericht in Arnsberg über die „Brauchbarkeit“ ihrer Schüler und deren Familien berichten müssen. Denn nur „brauchbare“ Familien bekamen Kindergeld.

So wurde der bedürftigen Familie des oben erwähnten Voßwinkelers „Josef“ mit vier gesunden Kindern die finanzielle soziale Unterstützung verweigert, weil der Vater krank und in der Heilanstalt in Warstein untergebracht war. Schizophren dabei: Während die Behörden der Familie das Kindergeld zum Lebensunterhalt verweigerten, verliehen die Nationalsozialisten der Frau parallel das „Ehrenkreuz der deutschen Mutter in Bronze“ für das Aufziehen der vier gesunden Sprösslinge.

Michael Filthaut: „In diesem Fall wurde der Familie auch nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft sogar auch noch die finanzielle Wiedergutmachung für politisch Verfolgte versagt. Die absurde Begründung: Der Familienvater sei so krank gewesen, dass er sowieso nicht mehr hätte arbeiten können.“

 

Heimatforscher Michael Filthaut präsentiert Forschungsergebnisse eines Projektes des „Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel“. Fotos: Andreas Dunker

Überaus groß war die Resonanz auf den ersten Vortrag. Deshalb soll es Ende Januar eine Wiederholung geben.

Info

Erbgesundheitsgerichte urteilten auch über die Sterilisierungen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Durch das Erbgesundheitsgericht Arnsberg (Bezirk des Landgerichts) wurden mehr als 2.100 Menschen zur Unfruchtbarmachung verurteilt. Für Voßwinkel kann der Arbeitskreis Dorfgeschichte bis jetzt sechs Fälle nachweisen.