Beiern gegen den Corona-Blues

Erstellt am 07.01.2022

Günter Bönner pflegt alte Glocken-Kunst erstmals auch in der Paulikirche

Das Ansprechen der Glocken-Klöppel geschieht über Fußpedale und Handzüge. Das Foto entstand während der Improvisationen von Günter Bönner. Martin Hufelschulte schaut im Hintergrund zu. Fotos: Thomas Brüggestraße

Von Thomas Brüggestraße

Soest. Silvesterabend,  kurz nach halb neun, eine Premiere steht an zur vollen Stunde: Günter Bönner will jetzt auch in der Pauli-Kirche „beiern“. Hand und Fuß braucht diese alte Kunst, die Glocken einzeln und nur kurz anzuschlagen. Melodien, ganze Lieder lassen sich so spielen.

Die nötige Vorrichtung dafür hat Bönner inzwischen komplett und sie auch selber nach und nach eingebaut – das beste Mittel gegen den Corona-Blues während der langen Zwangspausen und Kontaktverbote, erzählt er: Holzpedale habe er zugeschnitten, angepasst, angebracht und ausgetestet, dazu weitere Hölzer für die Umlenkrollen, an denen die Kunststoffseile im Betrieb stramm gespannt gleiten. An einem Ende sind sie sicher verbunden mit den Kettengliedern an den schweren Klöppeln und halten sie auf ganz kurzen Abstand zum Schlagring der Glocke – so sind sie beim Beiern per Zug oder Pedal schnell anzusprechen.

Bönner hat das schon einmal erklärt, als er zu Ostern seine Anlage im Turm von Sankt Petri vorgestellt hat : „Das ist, als würde man mit einem Hammer ganz kurz auf die Glocke schlagen.“ Einen genauen Ton ohne langen Nachhall ergebe das, und dieses kurze Anhämmern erkläre auch das „Beiern“ als Begriff: Das Lexikon leitet den ab vom altfranzösischen „baier“ (sprich „bajeh“), was „Anschlagen“ oder „Bellen“ bedeutet. Über das Flämische soll sich die Vokabel dann bis ins Rheinland verbreitet haben und von dort aus weiter.  

Eingespieltes Duo

Schummrig ist es in der Paulistraße vor dem Portal zur bald 800 Jahre alten Paulikirche, nur ab und zu kommen Leute vorbei. Günter Bönner wünscht immer wieder einen „Guten Rutsch!“, während er auf den zweiten Mann wartet: Martin Hufelschulte aus Westönnen hat sich für die katholische Sankt-Cäcilia-Kirche dort das Beiern bei Günter Bönner abgeschaut und Freundschaft geschlossen mit dem Soester: Mehr als 15 Jahre ist das jetzt schon her, und die beiden greifen sich ganz ökumenisch gerne unter die Arme und tauschen sich aus über das, was geht: Je mehr Glocken der Kirchturm hat, umso mehr Leute braucht man zum Bespielen, und es braucht auch mehrere, wenn beim „Taktbeiern“ einer die Klöppel bedient, ein anderer eine Glocke dazu über den Motor frei schwingen lässt und auf Knopfdruck wieder einbremst.

58 Meter geht es um kurz vor neun flott und sportlich eine enge steinerne Wendeltreppe hinauf, zum Schluss über Holztreppen – die sind breiter. Auf den Kopf muss man achtgeben, damit man nirgends an dicke Balken anstößt.

Über Elektromotoren angetriebene Räder bringen die Glocken von Sankt Pauli in Schwung: Vier Glocken hängen an Holzjochen im hölzernen Stuhl. Gegossen hat die Glocken Bernhard Wilhelm Stule. Wenn man die letzte Holztreppe hinaufgekommen ist, hängt links die Tauf- und Angelus-Glocke aus dem Jahr 1711. Sie klingt auf ein zweigestrichenes c, wiegt 250 Kilogramm. Die wuchtige Fleischhauer-Glocke rechts daneben ist die größte der vier, klingt auf es1­, wiegt 1,2 Tonnen und stammt wie die beiden weiteren Glocken aus dem Jahr 1720. Daneben hängt die auf f1 klingende Prophetenglocke. Sie wiegt 880 Kilogramm. Rechts außen schwingt die Paulus-Glocke mit dem Schlagton ges1 und einem Gewicht von einer halben Tonne.

Für das erste Silvester-Beiern ist alles schon vorbereitet: Die Seil-Enden sind mit den Kettengliedern an den Klöppeln verbunden, die auf Fingerbreite vor dem Schlagring ihrer Glocke auf den nächsten Anschlag warten, zwei angesteuert über Handzug, zwei über je ein Fußpedal. Die Elektrik ist abgeschaltet, die Schwungräder der Glocken sind mit Schraubzwingen blockiert.

Vier Tonhöhen

Was er spielen werde? „Keine festen Melodien, es wird eine freie Improvisation“, sagt Bönner vorm Gang den Turm hinauf: „Ich überlege mir was unterwegs“. Vier Tonhöhen hat er zur Verfügung, so viele, wie er Glocken hat. Mehr könne er alleine auch schwerlich kontrollieren. Oben angekommen, taucht er durch den Glockenstuhl und hockt sich hin auf ein Brett zwischen den Balken, zieht die Ohrenschützer über – Martin Hufelschulte hockt ein Stückchen weiter rechts, die Ohren auch mit „Micky-Mäusen“ geschützt.

„Eben noch den Schlag der Glockenuhr abwarten“, sagt Bönner um 21 Uhr. Dann schließt er die Augen, horcht in sich hinein und zieht und tritt sie hinaus in den Abend, die Viertel, die Achtel, die halben und die ganzen Noten, die Triolen und Schnörkel. Zwanzig  Minuten beiert er die Glocken, teilt sich die Improvisation auf in Abschnitte mit kurzen Pausen, vor dem dritten und letzen ist Martin Hufelschulte dran: Schraubzwinge her und damit raus mit der Bremse fürs Schwungrad!

Die Prophetenglocke soll majestätisch und vollmundig durchschwingen und lange nachklingen, während die anderen drei Glocken weiter kurz angeschlagen werden: Der ganze Turm schwingt und schwelgt mit, berauscht sich an der kraftvollen Klangfülle dieses Jahresend-Grußes: „Guten Rutsch, Ihr Leute da draußen: Bleibt gesund und munter – und lasst Euch impfen!“ In der Tat, es hat so geklungen. Und wieder unten vor der Türe, da hat es gerochen wie Apfel und Zimt – und nach ganz viel Zuversicht.

„Guten Rutsch“, wünschen sich Günter Bönner und Martin Hufelschulte. Die beiden werden sich zu Neujahr wieder sehen. Dann wird in Westönnen gebeiert, und Günter Bönner will sich das anschauen und anhören. Vielleicht muss er auch helfen – in Westönnen sind es acht Glocken, die für die alte Kunst des Beierns viel Aufmerksamkeit brauchen.

 

Günter Bönner sitzt beim ersten Silvester-Beiern 2021 auf seinem Balken im Glockenstuhl der Paulikirche.

Martin Hufelschulte kontrolliert beim Takt-Beiern das freie Schwingen der Prophetenglocke. Die drei weiteren Glocken werden arretiert und über Seilzüge an den Klöppeln angeschlagen.

Die historische Turmuhr von 1916 aus der Turmuhrenfabrik von Bernhard Vortmann aus Recklinghausen funktioniert immer noch zuverlässig.