Neunzig Minuten war Superintendent Dr. Manuel Schilling zu Gast in der Justizvollzuganstalt Werl. In seiner Andacht hat er die Inhaftierten aufgefordert, über sich und ihre Taten nachzudenken. Fotos: Hans-Albert Limbrock
Von Hans-Albert Limbrock
Werl. Der Mann vor mir überragt mich und meine 1,87 Meter fast um Haupteslänge. Eine beeindruckende Erscheinung. Er schüttelt mir die Hand und wir setzen uns auf zwei Stühle, die im weiten Rund der Gefängniskirche in der Justizvollzuganstalt Werl an diesem Abend verteilt sind. Knapp vierzig Menschen sind hier zusammengekommen. Neben zweiunddreißig Gefangenen einige Ehrenamtliche sowie Gefängnis-Seelsorgerin Uta Klose und Superintendent Dr. Manuel Schilling, der gekommen ist, um eine Andacht zu halten.
Ich komme mit dem Mann neben mir – nennen wir ihn Herbert – ins Gespräch. Warum er im Gefängnis sitzt, möchte ich von ihm wissen? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ich habe einen umgelegt!“ Er sagt das fast beiläufig und empfiehlt mir mit seinem nächsten Satz einen Besuch im Kloster Knechtstetten beim Spiritaner Missionsorden. Dort dürften die Mauern ähnlich dick sein wie die in Werl.
Nicht alle, die zum Donnerstagtreff gekommen sind, haben wie Herbert ein Menschenleben auf dem Gewissen. Und trotzdem haben einige von Ihnen weitaus Schlimmeres getan. So wie Martin (Vorname geändert). Bei der Fragerunde, mit der Schilling seine Andacht eröffnet hat, hat Martin gesagt, er habe sein Lebensglück im Gefängnis gefunden. Das macht neugierig. Wie er das meint, will der Superintendent später im persönlichen Gespräch mit dem 63-Jährigen wissen. Er habe hier vor knapp fünf Jahren seinen Partner Willi geheiratet. Dafür danke er Gott jeden Morgen: „Er ist die Liebe meines Lebens.“
Darf jemand wie Martin überhaupt dem lieben Gott dankbar sein? Darf jemand wie Martin, der seit 24 Jahren in Haft und in Sicherungsverwahrung ist, sein Glück finden? Hat er ein Recht dazu? Jemand, der unfassbar viel Leid über seine Opfer, deren Familien und auch seine eigene Familie gebracht hat? Schwierige Fragen. Unbequeme Fragen.
Fragen, die sich auch Gefängnis-Pfarrerin Uta Klose immer wieder aufs Neue stellt und auf die es keine einfachen Antworten geben kann und auch nicht geben darf. „Wir haben es ja immer mit zwei oder mehr zwei Seiten eines Menschen zu tun“, versucht sie eine Antwort. „Wir haben es mit Menschen zu tun, die gefährlich sind oder waren, die oft unendliches Leid über andere gebracht haben. Und wir haben es gleichzeitig mit Menschen zu tun, die versuchen, hier ihren Weg zu gehen. Das ist nicht einfach, wenn man so viel Schuld auf sich geladen hat.“
In der Kirche, so die Pfarrerin, dürfe die ganze damit verbundene Spannung ihren Platz haben, sich hoffentlich auch lösen und verwandeln lassen: „In der Bibel sind Menschen im Gefängnis mit ihren Erfahrungen in guter Gesellschaft und bei Gott gut aufgehoben.“
Auch Superintendent Manuel Schilling hat sich intensiv mit dieser Thematik beschäftigt. Und zum Teil ist es genau diese Diskrepanz zwischen Vergebung und Schuld, weshalb für ihn der regelmäßige Besuch der JVA in Werl wichtig ist: „Dort als Mensch, als Christ, als Theologe mit Menschen zu sprechen und die Bibel zu lesen, ist ungeheuer stark. Es ist wichtig. Wo hätte die christliche Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes, von seiner Gnade und von der Versöhnung mehr Relevanz als im Gefängnis?“
In seiner Andacht versucht er, die Gefangenen mitzunehmen und zu beteiligen. Er möchte, dass sie über sich selbst nachdenken; sich selbst reflektieren. Das gelingt zum Teil erstaunlich gut. Nicht alle lassen sich erreichen, aber nur einige Wenige schalten ab: Sie können mit dem, was der Mann Gottes sagt, offenbar nichts anfangen. Aber das unterscheidet sie im Grunde nicht von manchen Kirchgängern in der Freiheit.
In den Mittelpunkt hat Dr. Schilling den Brief des Apostels Paulus an die Galater 2,20 gestellt: „Ich lebe, aber nun lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir“: „Das ist so etwas wie das Grundgesetz christlichen Lebens“, sagt Schilling.
Gemeinsam seziert man die Philosophen-Sätze Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Was verdient überhaupt Leben genannt zu werden und gibt es Leben im Gefängnis? Welche Kräfte leben in mir, und was bedeutet es, wenn ein Ermorderter in mir lebt? Will ich das? Der Theologe fordert die Männer auf, zu berichten, was diese Sätze mit ihnen machen, welche Gefühle sie auslösen: Hoffnung, Sehnsucht, Frieden, Kraft, Vergebung – aber auch Ohnmacht und Wut. „In mir lebt ein unglaublicher Zorn und eine große Ratlosigkeit“, sagt einer.
„Die Bibel und der Glaube können trösten; gerade bei Menschen, die mit sich und der Welt hadern“, ist der Superintendent überzeugt und hofft, dass er dieses Gefühl in den knapp neunzig Minuten seines Besuches vermittelt hat. Er weiß, dass sein Besuch in der JVA nur ein kleiner Impuls sein kann. „Es ist für uns alle schwer, zu unserer Schuld zu stehen, und für Menschen im Gefängnis noch mehr. Wer aber nicht zu seiner Schuld steht, kann auch keine Vergebung erfahren. Das ist ein Drahtseilakt.“
Ob diese Botschaft bei Martin angekommen ist, bleibt an diesem Abend offen. Er gibt sich ohnehin keinen Illusionen hin: „Wir kommen hier nicht mehr raus. Mein Partner Willi und ich werden im Gefängnis sterben.“ Anträge auf Lockerung oder Urlaub stellt er nicht mehr: „Ich sehe die Mauern und die Zäune nicht als eine Bedrohung für mich. Im Gegenteil: Sie schützen mich und damit andere, dass nie wieder etwas passieren kann.“
Uta Klose ist Gefängnisseelsorgerin in der JVA und erlebt das tägliche Spannungsfeld von Schuld, Sühne und Vergebung.
Über tausend verurteilte Männer sitzen in der Justizvollzuganstalt Werl -einem der größten Gefängnisse Deutschlands - ein: Mörder, Vergewaltiger, Diebe, Drogendealer, Räuber – nahezu die komplette Klaviatur denkbarer Verbrechen ist hinter den massiven Zellentüren zuhause. Der Großteil der Inhaftierten bleibt einige Jahre hier, einige sogar für immer. Hinzu kommen noch 140 Männer in der Sicherungsverwahrung. Viele von ihnen hält man für so gefährlich, dass sie für immer weggesperrt bleiben.
Die Gefängnisseelsorge, die von der Evangelischen und Katholischen Kirche verantwortet wird, bietet mit Unterstützung durch Ehrenamtliche verschiedene Gesprächsgruppen an. So für Männer aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und osteuropäischen Staaten, die von Pfarrerin Uta Klose begleitet wird. Constance Pfarrerin Herfeld betreut eine Gesprächsgruppe für Männer aus den afrikanischen Ländern. Es gibt zudem zwei Gruppen für Gefangene mit lebenslänglicher Haftstrafe. Regelmäßig trifft sich ebenso ein Chor. Pfarrerin Herfeld bietet außerdem ein offenes Seelsorgecafe für Sicherungsverwahrte an. Einmal im Monat gibt es dort eine Andacht. Darüber hinaus finden verschiedene Gruppen der Katholischen Seelsorge statt. Sonntags werden Gottesdienste gefeiert und es werden individuelle seelsorgliche Gespräche angeboten.
Die Gefängnisseelsorge, die von der Evangelischen und Katholischen Kirche verantwortet wird, hat zahlreiche Angebote für die Inhaftierten.