Schwerelos zwischen den Kirchturmspitzen

Erstellt am 30.08.2024

Hochseilartist Oliver Zimmermann balanciert zwischen Petri und Patrokli von Kirchturm zu Kirchturm

In knapp dreißig Metern Höhe hat Oliver Zimmermann die Strecke zwischen Patrokli- und Petri-Kirchturm zurückgelegt. Fotos: Thomas Brüggestraße

Von Thomas Brüggestraße

Soest. Zwanzig nach fünf ist es am Samstagnachmittag, 24. August. Soest ist offiziell 1400 Jahre alt, feiert das vier Tage lang knallbunt und ausgelassen, und mit Oliver Zimmermann zum Beispiel. Dem geht es gut. „Habe Schokolade gegessen, dann geht's immer gut", erzählt er beim Treffen im Petrus-Haus. Eine Vorstellung hat er schon hinter sich, das war um vier. Etwas windig war es, oben bleiben eine Kunst, die er gelernt hat. Viele Leute staunten da schon gebannt und legten den Kopf in den Nacken. Um sechs will er wieder rauf aufs Seil und in Schwindel erregender Höhe erneut den Weg von Turm zu Turm wagen. Vom Dom zu Petri und zurück: Ein Mann, ein Seil, eine lange Stange zum Balancieren. „Ist wie ein Handlauf an der Treppe", lächelt der 54jährige Hochseilläufer aus Bad Vilbel bei Frankfurt. Fünf bis sieben Meter, das sei seine Lieblingshöhe, erzählt Zimmermann. Nähe zum Publikum, das sei schon wichtig.

Auch wenn das Stahlseil mit seinen 11,5 Zentimetern Durchmesser ein wenig durchhängt: Zimmermann wird deutlich mehr als sieben Meter über Rathausstraße und nördlichem Petrikirchhof balancieren, Fuß vor Fuß, die selbst gezimmerte Plattform am jeweils gegenüber liegenden Turm fest im Blick. Seiltanz hat er in Brüssel gelernt. Mit fast Dreißig schwenkte er um und besuchte in Brüssel die „École sans filet", die Zirkusschule „ohne Netz". Frisch infiziert war er da mit dem Artistenvirus, zurück von einer Reise per Anhalter durch England. Ein Fahrer, der ihn dort ein Stück des Weges mitgenommen hatte, hatte wortreich davon geschwärmt, dass er gerade in London eine Zirkusschule besuche. Ein Funke sprang über, und ab da wollte Oliver Zimmermann nur noch eines: hoch hinaus.

Kein Fan von großer Höhe

Den Soestern gefiel das. Für das Stadtjubiläum luden sie Oliver Zimmermann ein, seinen atemberaubenden Spaziergang zwischen den Kirchtürmen zu zeigen. Sein Mitarbeiter Joppe Wouters aus Belgien ist immer mit dabei, hilft, das Stahlseil zu spannen, alles vorzubereiten. Penibelst. Wie kommt das Seil zwischen die Türme? Mit einem Kran und dann fest verankern? Zimmermann winkt ab. „Von wegen. Alles Handarbeit: Wir haben zwei dünne Seile, und an dem ziehen wir das Laufseil hoch und spannen. Zwei Tage haben wir dafür gebraucht", erläutert er. Kein Kran also, keine aufwändige Technik, dafür viel Gewusst wie. Die beiden Küster, Georg zur Heiden am Dom und Boris Fischer an der Petri-Kirche, sie lobt Zimmermann mit Nachdruck: Geholfen hätten sie, wo sie nur konnten, und die Zusammenarbeit sei einfach wunderbar. Die Soester insgesamt, die lobt Zimmermann auch: „Scheinen wirklich recht entspannt zu sein. Nette Leute, direkt und umgänglich."

Zurück zum Seil: Wie steht's mit der Angst? „Ich bin nicht angstfrei, ich bin auch kein Fan von großer Höhe", sagt Zimmermann. „Ich suche wie gesagt eher die Nähe zum Publikum. Das entspannt." Gelaufen sei er schon in 50 Metern Höhe, da fehle ihm diese Nähe, dieser Kontakt. Der Spaziergang in Soest: 64 Meter hin, 64 Meter zurück in 30 Metern Höhe.

Gibt es ein Ritual vor dem Gang aufs Seil? Zimmermann: „Klar. Ich mache Atemübungen und zwei bis drei Yogaübungen. Vor jedem Auftritt, etwa eine halbe Stunde vorher." Boris Fischer schaut auf die Uhr und sagt: „Ist auch gleich so weit." Schnell eine letzte Frage: „Was wünscht man einem Seiltänzer?" Zimmermann schaut und lächelt: „Oben bleiben!" Ein fester Händedruck, dann ist er fort.

Ich stapfe die steinernen Stufen hinauf zum Glockenstuhl und über ein halbes Dutzend Holztreppen und Stiegen immer höher bis zur Türe nach draußen: In 30 Metern Höhe ruht der Turmhelm auf dem Gemäuer, und es gibt einen schmalen Rundgang zwischen Helm und Brüstung. Es kribbelt wieder so merkwürdig in den Beinen. Nein, ich bin auch kein Fan von Höhe.

Danach ein Bier von Zwiebel

Man sieht von hier oben durch die Säulen der steinernen Brüstung hindurch auf das Laufseil und die Abspannseile und hinüber zum Patrokliturm. Eine kleine Plattform aus Holz hat Zimmermann dort vor den Ausstieg gebaut. Schlag sechs schaut er vorsichtig zwischen den Säulen hervor, zückt sein Handy und fotografiert erst einmal hinunter in Richtung beider Kirchplätze, nach Norden und nach Süden. Es stehen auch jetzt wieder viele Leute dort und recken die Köpfe in die Höhe. Eine Drohne surrt vor dem Petriturm, steht kurz in der Luft und verschwindet wieder. Auf dem Balkon über Optik Berner in der Rathausstraße haben sich zwei in Position gebracht und wollen von dort den Gang übers Seil mit einer Kamera aufzeichnen. Die Sonne scheint. Windig ist es dieses Mal nicht. Jedenfalls nicht auf meinem Ausguck.

Zimmermann befestigt das Sicherungsseil am Gürtel, dann steht er mit beiden Beinen auf der Holzplattform, zeigt auf das Laufseil, hinüber zu Sankt Petri, fixiert das Laufseil mit festem Blick, greift sich die Balancierstange und steht zwei Sekunden später kerzengerade auf dem Seil, hockt sich hin, schaut noch einmal hinunter zum nördlichen Kirchplatz, dann wieder geradeaus zum Petriturm, richtet sich auf und geht los. Fuß vor Fuß. Er kniet sich hin, grüßt in die Menge, richtet sich wieder auf und schreitet weiter. Konzentriert und achtsam bis in die letzte Faser der Fußsohlen. Ob man da feinfühlige Muskulatur habe? „Und ob“, hatte Zimmermann zuvor belustigt geantwortet.

Sein Schatten wandert jetzt deutlich sichtbar das Gemäuer am Patrokliturm hinunter, während der Mutige auf dem Seil weiter Fuß vor Fuß setzt und gefühlt frei in der Luft steht, die lange Balancierstange in den Händen. Von unten dringen immer wieder Beifallsrufe und lautes Klatschen in die Höhe: Die Leute sind begeistert. Viele staunen mit offenem Mund. Einige haben das Handy gezückt und filmen.

Eine gute Viertelstunde braucht Zimmermann von Turm zu Turm. Genau die gleiche Zeit brauche ich von meinem Ausguck auf dem Petrikirchturm die Stiegen und Treppen und niedrigen Steinstufen hinunter auf den Vorplatz. „Türen zu und Licht ausmachen nicht vergessen", das hatte Petri-Küster Boris Fischer mir aufgetragen. Auf dem Kirchplatz geht es mit wieder einmal seltsam weichen Beinen hindurch durch die begeistert klatschende Menschenmenge: Gerade noch rechtzeitig finde ich Zimmermann mit dem Teleobjektiv — er steht längst wieder auf der Holzplattform am Patrokliturm, hält sich mit der Linken an einer Säule fest und winkt mit der Rechten in die Menge. Mal nach Süden, mal nach Norden, und er strahlt fröhlich: Geschafft! Er ist wieder einmal „oben geblieben". Seit 26 Jahren schafft er das jetzt. Und trotzdem ist jeder Gang ein neuer Gang. Der macht Angst, das ist gut so, denn er braucht volle Aufmerksamkeit. Jedes Mal.

Daheim in Frankfurt, da trinke man „Äpple“, hatte Oliver Zimmermann vor dem Balanceakt erzählt. Danach wolle er sich ein Bierchen gönnen, er sei ja auch eher der Biertyp. Und ja, den Tipp mit der Zwiebel und dem Soester Hell und Dunkel, den nehme er dankbar an: „Ich werd’s ausprobieren.“

 

Faszinierendes Schattenspiel auf dem schwankenden Drahtseil.