Vier Damoklesschwerter auf einmal

Erstellt am 28.11.2024

Wie das White Horse Theatre aus Müllingsen seine schwersten Jahre überstand  

Anne Schmidt-Griffith, Peter Griffith und Juliam Zimmerle-Griffith (vorne, von links) verabschiedeten mit einer Motto-Party ihre letzte Riege von 26 Schauspielern, bevor nach den Sommerferien die neuen Darsteller kommen. Foto: Bunte

 

Von Klaus Bunte

Müllingsen. Es war der letzte Abend für das aktuelle Ensemble, gemeinsam feierten sie das zurückliegende Dreivierteljahr, in dem sie Deutschland bereist und in etlichen Schulen bis zu drei verschiedene Vorstellungen an einem Vormittag gegeben haben. Frisch von der Schauspielschule kamen sie, viele hatten hier ihr erstes professionelles Engagement, nun ging es zurück nach Großbritannien.

Für sie bedeutete das White Horse Theatre ein kurzes Kapitel, oder vielmehr einen kurzen Einakter in ihrem Leben. Für Peter Griffith dagegen ist es sein Lebenswerk. 73 wurde der Mann, der das englischsprachige Schultheater 1978 gegründet hat, an diesem Abend. Ein Lebenswerk mit Höhen und Tiefen – für letztere sorgten jedoch erst die vergangenen paar Jahre. „Das waren vier Damoklesschwerter in kürzester Zeit: Corona, der Brexit, die Inflation und meine eigene Gesundheit.“ Mitten in der Pandemie erhielt er die Diagnose: Parkinson. Griffith geht offen um mit seiner Erkrankung. Man merkt sie ihm an diesem Abend nur an, wenn man ihn länger kennt. Er spricht und bewegt sich sehr zurückgenommen und bedacht.

Die Geschäftsführung hat er eh längst an seinen Sohn abgegeben. In den Betrieb hineingeboren, stieg Julian Zimmerle-Griffith 2009 ein, die vergangenen Jahre waren seine Bewährungsprobe. Er hat sie gemeistert, sonst wären jetzt nicht alle hier und könnten fröhlich die abgelaufene Saison feiern. Im kommenden Jahr will Peter Griffith aber auch letztmals Regie führen, sich dann ganz aus dem Betrieb zurückziehen und seine Biografie fertigschreiben.

Zurückgezogen hatte er sich auch gerade wieder einmal, als die Pandemie begann, und zwar nach Neuseeland. Er sucht dann weniger die räumliche als die zeitliche Distanz zu Müllingsen, sprich, die zwölf Stunden Zeitverschiebung: „Dann kann ich dort in Ruhe neue Stücke schreiben, während daheim alle noch schlafen, und niemand ruft mich an – eine gute Ausrede für mich, um nach Neuseeland zu reisen.“ Denn die Stücke für die unteren Klassen stammen stets aus seiner Feder, für die Oberstufen adaptiert er Klassiker der Bühne und der Belletristik. Nur auf das Bestreben seines Sohns hin stiegen er und seine Frau Anne Schmidt-Griffith schweren Herzens vorzeitig in einen Flieger in die Heimat – und doch keine Minute zu früh, denn es war der vorletzte Flug, bevor Neuseeland sich komplett abschottete.

ZWISCHENTITEL: Völliges Chaos durch Corona und Brexit

Indes fuhr der Sohn innerhalb einer Woche den Betrieb auf null und sandte die Schauspieler nach Hause: „Es war ein völliges Chaos, da niemand wusste, wie die Regierung handeln würde, ob wir bald bankrott gingen. Und wäre die Pandemie wenige Wochen früher ausgebrochen, wäre das auch passiert“, fährt Julian Zimmerle-Griffith fort. „So hatten wir noch genügend Geld einnehmen können, um die Liquidität zu gewähren. Gerade die zweite Hälfte des Jahres ist die Zeit, in der wir Geld einnehmen. Während der Probenphase geben wir nur Geld aus.“ Monatelang habe man den Corona-Hilfen hinterherlaufen müssen, nur aufgrund der Zusage bekamen wir überhaupt einen Kredit. Und ein Großteil der Altersvorsorge meiner Eltern ist als Gesellschafterdarlehen ins Unternehmen geflossen. Sollten wir nicht überleben, haben sie ein echtes Problem. “ Einen solchen Betrieb kann man nicht ad hoc wieder hochfahren. Durch die Corona-Wellen wurden die Planungen mehrfach über den Haufen geworfen.

Mittendrin der Brexit. Anfangs änderte sich überraschend wenig, „denn verinnerlicht hatten wir nicht, dass der Brexit ein Prozess aus mehreren Schritten ist, der sich über zehn Jahre erstreckt, sodass manche Sachen vorerst noch gelten“, so Julian Zimmerle-Griffith. Erst 2023 wurde England bezüglich Fragen der Arbeitserlaubnis und der Sozialversicherung ein Drittstaat, „und als eine Schauspielerin aus gesundheitlichen Gründen ausfiel, bekamen wir dadurch so rasch keinen Ersatz. Ohne die Hilfe des Ausländeramts des Kreise Soest hätte das noch viel länger gedauert.“ Als die letzte Riege von 26 Schauspielern bei ihm anheuerte, mussten alle einmal kurz nach Deutschland fliegen, eine Unterschrift leisten, und dann wieder zurückfliegen. Und der anstehende Regierungswechsel auf der Insel macht die Zukunft nicht weniger ungewiss.

White Horse musste reagieren: „Deutsche Unternehmen müssen jetzt mindestens zwei, maximal sechs Monate warten auf Genehmigungen, Mitarbeiter aus Großbritannien herzuholen. Irische Unternehmen können aber viel schneller Mitarbeiter nach Deutschland entsenden.“ Unter kostspieliger Mitwirkung mehrerer Spezialanwälte aus Deutschland, Irland und England wurde das Unternehmen über sechs Monate hinweg in eine Holding verwandelt, sodass es neben der deutschen Firma, die die hiesigen Mitarbeiter beschäftigt, auch eine irische gibt, die die Schauspieler beschäftigt und entsendet. Dinge, in die sich Julian Zimmerle-Griffith als gelernter Mediengestalter Bild und Ton hineinfuchsen musste, „aber ich war der einzige in der Familie, der damit halbwegs klarkam.“ Mutter Anne fügt hinzu: „Er hat die große Gabe, pingelig das Kleingedruckte lesen zu können.“

Und dann die Inflation: „Alleine die Ferienunterkünfte, in denen die Schauspieler an den Auftrittsorten übernachten, sind teilweise doppelt so teuer geworden. Wenn die Anfahrtswege es erlauben, kommen sie nach den Auftritten wieder hierher nach Müllingsen. Wenn wir die Preise so erhöhen würden, wie wir müssten, würde das keiner mehr zahlen. Schon jetzt sagen manche Schulen, sie könnten den Eltern nicht noch höhere Eigenanteile abfordern.“

Die kürzeste Anfahrt hatten die Darsteller früher immer zum „Alten Schlachthof“. Zweimal jährlich trat das Theater im Soester Kulturhaus auf, „doch seit Herbert Kanein als Geschäftsführer ging, bestand kein Interesse mehr an uns. Obendrein hat die Stadthalle einen Vertrag mit einem Mitbewerber, der dort regelmäßig auftritt“, so Peter Griffith. Julian: „Dorthin schicken die Schulen nur einzelne Klassen und die Stücke erreichen nur wenige Schüler. Ob das für Kultur so sinnvoll ist, wenn vielleicht nur die Elite der Schüler oder die besser Betuchten sie zu sehen bekommt, sei mal dahingestellt. Deshalb geben wir heimischen Schulen für die ersten Wochen der neuen Saison bereits einen Preisnachlass.“

 

Mit seiner Version des Volksmärchens „Dick Whittington“ wendet sich Peter Griffith an Dritt- und Viertklässler. Foto: Rene Golz

George Bernard Shaws „Pygmalion“ lieferte die Vorlage zum Musical „My fair Lady“. Griffith kürzte das Stück auf eine Version für vier Darsteller herunter. Foto: Rene Golz