Gezielte Tötung als Verwaltungsakt

Erstellt am 28.07.2023

AK Dorfgeschichte Voßwinkel recherchiert über Euthanasie und stößt auf spektakuläre Dokumente

Dr. Ulrike Schowe (Sauerlandmuseum), Michael Rademacher (AK Dorfgeschichte), Susi Frank (Archiv Hochsauerlandkreis) und Michael Filthaut (AK Dorfgeschichte) stellte jetzt die im Kreisarchiv gefundenen Dokumente sowie die ersten Ergebnisse zur Recherche über Euthanasie im NS-Staat im Sauerlandmuseum in Arnsberg vor. Fotos: Frank Albrecht

Von Frank Albrecht

Arnsberg. Seit rund drei Jahren laufen die Recherchearbeiten beim „Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel“. Auf der Suche nach Dokumenten zur Euthanasie während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland, also dem bewussten Töten von Menschen mit vermeintlichen Erberkrankungen, haben die Mitglieder des Arbeitskreises jetzt Spektakuläres entdeckt: Akten aus dem Archiv des Hochsauerlandes belegen, dass über die Vorgänge auch im Sauerland genau Buch geführt wurde. Die Hobby-Forscher sind Arbeit geschockt: bewusste Tötung, sozusagen als Verwaltungsakt. In den Räumen des Sauerlandmuseums in Arnsberg, das die Arbeit auch aus dem Blickwinkel einer Forschungsstelle beobachtet, fand jetzt die Vorstellung der ersten Ergebnisse und Dokumente statt.

Über die Verfahren zur „Unfruchtbarmachtung“ von Menschen in den Jahren ab 1933 hatte der Arbeitskreis schon vorher in einer seiner Ausgaben der „Voßwinkeler Rückblicke“ berichtet. „Das Projekt des Arbeitskreises war aber noch nicht abgeschlossen“, sagt Michael Filthaut, weshalb weiter an verschiedenen Stellen gesucht wurde. Vor fast zehn Jahren hatte sich der Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel schon einmal intensiv mit den politischen Veränderungen durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Ort beschäftigt. Jetzt offenbaren weitere Recherchen die Tragweite der Verbrechen bis in die lokale Ebene.

„Wir sind erschrocken über den menschenverachtenden Umgang und wollten die Ergebnisse unserer Recherchen nicht nur in einem kleinen Rahmen des Arbeitskreises darstellen, sondern einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen“, erklärt Filthaut die Beweggründe. Denn viele Jahre habe man von den Verbrechen an Familien in Voßwinkel nur über mündliche Weitererzählung gehört, jetzt gebe es über die gefundenen Dokumente aber auch Zahlen, die die Tragweite für Voßwinkel und Arnsberg deutlich machten. Und dabei, so schildert Michael Filthaut weiter, gibt es auch persönliche Bezugspunkte. Schließlich sei das Urteil „erkrankt“ in der Zeit der nationalsozialistischen Regierung für alle Familien ein vernichtendes gewesen: Betroffenen Familien sei jede Form staatlicher Unterstützung wie Kindergeld verwehrt geblieben, von der drohenden Vollstreckung des Gesetzes ganz abgesehen.

Eine Familie aus Voßwinkel sei besonders stark von den Folgen des am 14. Juli 1933 erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ betroffen gewesen. Insgesamt drei Männer aus der Familie seien sterilisiert und ein Kind sogar getötet worden. In seiner Recherchearbeit ist der Arbeitskreis in den Dokumenten auf 26 Anzeigen, allesamt Anträge auf Sterilisation, gestoßen. In acht Fällen, so Filthaut, sei diese auch vollzogen worden. 13 Kinder aus dem Dorf seien ferner bereits vorgemerkt worden, wegen des Zusammenbruchs des NS-Systems sei es aber schließlich nicht mehr zur Vollstreckung gekommen.

Der Blick auf die Zahlen offenbare aber auf Kreisebene aber eine größere Dimension. „Wir haben entdeckt, dass beim Erbgesundheitsgericht Arnsberg mit Sitz am Amtsgericht Arnsberg 2629 Fälle anhängig waren“, schildert Filthaut. In den Jahren zwischen 1934 und 1944 seien daraufhin in 2106 Fällen Verurteilungen ausgesprochen worden. In einem unrühmlichen Licht hat der Arbeitskreis auch die neuen Aufgaben für die Kreisgesundheitsämter in Arnsberg, Meschede und Brilon gefunden. „Die Aufgaben der Ämter hatten sich mit dem Gesetz geändert: Nicht mehr die Gesundheit der Einzelnen wurde betrachtet, sondern es stand die Gesundheit des Volkskörpers im Fokus“, beschreibt Heimatforscher Filthaut.

Menschliche Schicksale in Buchungsform

Sterilisationen wurden nach der Verurteilung nur in den dazu ermächtigten Krankenhäusern durchgeführt. Wie die Recherchen ergeben haben, war das Marienhospital in Arnsberg eines dieser Häuser. Auch in Krankenhäusern der Städte Soest, Lippstadt oder Paderborn seien Sterilisierungen vorgenommen worden. Susi Frank, die Leiterin des Kreisarchivs hat das für die Recherchen spektakuläre und interessante „Inventarbuch zur Sterilisierung“ gefunden. Hierin sei der Vollzug der Sterilisierung mit Nennung von Namen, Geburts- und Wohnort genau fest gehalten worden. „Menschliche Schicksale in Buchungsform“, schildert Susi Frank.

Sie hat 160 Personen in den Dokumenten gefunden, die beim Gesundheitsamt Meschede in das „Verzeichnis der Erbkranken“ eingetragen waren, in 136 Fällen sei dort der „Vollzug“ verzeichnet gewesen. Und noch mehr Zahlen belegen das Ausmaß des Unmenschlichen: So seien im „Verzeichnis der Unfruchtbarmachungen“ des Kreises Arnsberg 116 Fälle dokumentiert, die direkt am Marienkrankenhaus in Arnsberg vorgenommen wurden. Die Auswirkungen dieses Gesetzes hätten sich bis in die Familien ausgewirkt: Einige Menschen seien im Zusammenhang mit den Eingriffen verstorben, und die Unfruchtbarmachung von Jugendlichen im Alter ab 14 Jahren habe sich auch auf die Familien ausgewirkt.

Insgesamt sind 400.000 Menschen im damaligen „Deutschen Reich“ per Gesetz durch die Nationalsozialisten zwangssterilisiert worden. 303 von ihnen – so haben die Recherchen des Arbeitskreises Dorfgeschichte unter Zuhilfenahme der Dokumente aus dem Kreisarchiv ergeben – im Kreis Arnsberg. „Erschrocken waren wir auch von der Art und Weise der Meldungen so genannter erbkranker Personen“, schildert Michael Filthaut. So sei zum Beispiel die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ direkt aus den Arztpraxen heraus den Behörden gemeldet worden. Oder betroffene Menschen wurden so eingeschüchtert, dass sie sich oder Angehörige aus eigenem Antrieb heraus gemeldet haben.

Über viele Zusammenhänge und Zahlen aus den Recherchen zu einem weiteren dunklen Kapitel der deutschen Geschichte informiert der Arbeitskreis in den Voßwinkeler Rückblicken. Diese können über den Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel bestellt und erworben werden. Kontaktmöglichkeiten sind der Homepage des Arbeitskreises unter www.dorfgeschichte-vosswinkel.de zu entnehmen.

Michael Filthaut vom Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel bei der Vorstellung der Ergebnisse.

Tötung als Buchungs-Akt: Die im Kreisarchiv gefundenen Dokumente zeigen die genaue Erfassung der von Euthanasie betroffenen Menschen in Listen.