Wir müssen uns als Kirche neu erfinden

Erstellt am 28.07.2023

Superintendent Dr. Manuel Schilling sieht in der Krise eine Chance zur Neuausrichtung

Inzwischen leider ein gewohntes Bild: leere Stühle in der Kirche. Foto: pixabay

Von Hans-Albert Limbrock

Soest.  Im zweiten Teil des Sommer-Interviews spricht Superintendent Dr. Manuel Schilling über die zunehmende Entfremdung der Mensch en von der Kirche und über die gesellschaftspolitische Stimmung im Land.

Der Siegener Theologie-Professor Ulrich Riegel sieht in der Kirche nur noch einen Serviceanbieter, dessen Abo man eben kündigt, weil man keinen Nutzen mehr darin sieht. Was ist da in den vergangenen Jahren schiefgelaufen?

Schilling: Die Verantwortung dafür kann man nicht so einfach der Kirche alleine zuschieben. Es ist eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in den westlichen Ländern, dass Individualisierung einhergeht mit der Erosion traditioneller Ordnungsmuster, im kulturellen wie institutionellen Bereich. Damit funktionieren alle Bereiche des Lebens zunehmend marktförmiger, mehr oder weniger anarchisch. Diese Entwicklung hat Vorteile, leider nicht für alle, und erhebliche Nachteile für viele, vor allem die Schwächeren in der Gesellschaft. Diese Entwicklung dürfen wir nicht populistisch verteufeln, sei es mit religiösen oder politischen Parolen. Wir müssen uns ihr stellen.

Was bedeutet das für die Kirche?

Sie hat vielleicht zu lange darauf gesetzt, dass sie sich irgendwie noch durchhangeln kann, wo doch auch Gewerkschaften, Parteien und Gesangsvereine schwächeln. Kirche als quasi staatsanaloge Ordnungsmacht, eine Art öffentlich-rechtlicher Religionsfunk – das ist vorbei. Mich schmerzt das oft, weil so viel scheinbar Selbstverständliches, mit dem ich aufgewachsen bin, meine Kinder nicht mehr erleben konnten. Ein Beispiel: Ich bin noch als Kind am 10. November von Haus zu Haus gezogen, habe „Ein feste Burg ist unser Gott gesungen“ und meine Mandarine bekommen. Wir waren viele. Als Papa war ich dann an dem Datum schon ziemlich alleine mit meinen Kindern im Dunkeln unterwegs.

Auf der anderen Seite verschafft diese Entwicklung vermutlich auch ganz viel Freiraum für neue Entwicklungen.

Das stimmt. Wir müssen und können uns als Kirche neu erfinden. Das ist gut protestantisch.

Und was heißt das konkret?

Auf der einen Seite raus aus den Kirchenmauern zu den Menschen und ins Gespräch mit ihnen treten, sei es auf den traditionellen Schützenfesten, sei es auf den neu aufkommenden Events jeder Art, sei es an den vergessenen Orten unseres Landes. Dort zuhören und unseren Glauben in der Sprache der Welt mitteilen. Auf der anderen Seite den Menschen, die nach uns fragen, verlässlich zur Seite stehen, vor allem an den Wendepunkten des Lebens, hier besonders bei der Geburt und Taufe, sowie am Sterbebett und auf dem Friedhof. Und schließlich in unsere kirchlichen Räume einladen und dort liebevoll vorbereitete und gastfreundlich gestaltete Momente feiern, mit all den Schätzen, die wir durch unsere reiche Tradition bewahrt haben.

Es ist in diesem Zusammenhang auch von einem allgemeinen Relevanzverlust von Religion die Rede. Wie kann man den stoppen, ihn vielleicht sogar umkehren?

Der große Religionssoziologe Detlef Pollack aus Münster, bei dem ich als Student lernen durfte, spricht nüchtern vom unausweichlichen Relevanzverlust der Religion und damit auch der Kirche. Die Statistiken mögen auf seiner Seite sein. Pollack selbst gibt zu, dass ihm der Glaube fehlt, der an Gott und damit auch an eine Zukunft der Kirche. Er selbst bedauert das. Mir wurde das Geschenk des Glaubens gemacht. Deshalb kann ich mich damit nicht brüsten. Ich kann mich nur an diesem paradoxen und für menschliche Augen sinnlosen Glauben halten, dass Gott seine Kirche nicht verlässt.

Besteht nicht sogar die Gefahr, dass Religion in der völligen Bedeutungslosigkeit verschwindet?

Meine Vermutung ist, dass die Religion nicht stirbt, sondern dass sie sich verwandelt. Dann sollte die Kirche sich auch hurtig dieser Verwandlung stellen. Sie sollte auf der einen Seite mutig marktförmiger werden und fragen: Was ist wirklich das Interesse der Leute, und wie können wir das „bedienen“? Und auf der anderen Seite fragen. „Was will Gott von uns? Welchen Auftrag hat er?“ Wir sind als Kirche keine stolze Institution mehr. Vielleicht können wir gute Dienstleister werden, Dienstleister der Menschen und Dienstleister Gottes.

Haben Sie die Sorge, dass wir zu einer gottlosen Gesellschaft verkommen und welche Auswirkungen hätte das?

Diese Sorge habe ich in der Tat. Es wäre fürchterlich. Es wäre das Ende der Mitmenschlichkeit auf allen Ebenen.

Wie wütend macht es Sie, wenn Sie und Ihre Pfarrerinnen und Pfarrer an der Basis aufopferungsvoll um jeden einzelnen Gläubigen kämpfen und dann Themen wie Missbrauchsskandale, Personen wie Wölki oder der von den Gläubigen völlig entfernte und sich zunehmend von ihnen weiter entfremdende Vatikan dies konterkarieren?

Sehr wütend. Es gibt dafür kaum Worte.

Die gesellschaftspolitische Stimmung in unserem Land scheint zu kippen. Die AFD erreicht Umfrageergebnisse, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Macht Ihnen das Angst?

Durchaus. Die Erfahrungen in den europäischen Nachbarländern Polen und Ungarn, sowie die Entwicklungen in Frankreich lassen nichts Gutes ahnen. Dabei nährt sich die AFD von einer Unzufriedenheit, die wiederum Ausdruck der Tatsache ist, dass unsere westlichen Gesellschaften immer schwerer politisch zusammenzuhalten sind. Allgemeine Politikerschelte ist nicht angemessen. Ich habe große Hochachtung vor allen politischen Verantwortungsträgern, auf allen Ebenen unseres Staates. Ich traue ihnen zu und erwarte, dass sie über die politischen Lager hinweg zusammen arbeiten, um der zunehmenden Verdrossenheit das Wasser abzugraben.

Muss Kirche da nicht deutlicher die Stimme erheben?

Ich finde, das tut sie schon ziemlich gut. Unsere Präses wird unablässig angefragt und erhebt nachdenklich und werbend ihre Stimme. Internationalität, Solidarität, Klimagerechtigkeit – das sind Markenzeichen unserer Kirche. Wichtig finde ich, dass das auch auf der Ebene der Gemeinden gelebt wird. Und auch dort erlebe ich viele ermutigende Initiativen: Treffpunkte für iranische Geflüchtete, Kirchenasyl, Klimagruppen, das Berufskolleg für Pflegeberufe. Damit sind wir in Kontakt zur gesellschaftlichen Umgebung.

Was ist dabei besonders wichtig?

Entscheidend ist, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Initiativen erkennbar kirchlich verbunden und theologisch gegründet sind. Dass man spürt: hier sind Christen aufgrund ihres Glaubens mit vielen anderen Menschen – unabhängig von deren religiöser Überzeugung – unterwegs, und sie haben sich das gut überlegt. Dann wird die Kirche vielstimmig ihre Botschaft überbringen und in unserem Land Resonanz finden. Was nicht immer Zustimmung bedeuten muss.

Im dritten und letzten Teil des Interviews spricht Schilling in der kommenden Woche über den Ukraine-Krieg und die Zukunft des Evangelischen Kirchenkreises Soest-Arnsberg.

Superintendent Schilling: „Wir müssen uns der Verantwortung stellen.“ Foto: Hans-Albert Limbrock