Geborgenheit vor Gott erleben

Erstellt am 04.08.2023

Superintendent Dr. Schilling zur Zukunft der Kirche und sein tägliches Ritual

Dr. Manuel Schilling erhofft sich vom Umzug der Jugendkirche ins Zentrum von Soest neue Impulse für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Foto: Hans-Albert Limbrock

Von Hans-Albert Limbrock

Soest. Wie können in Zukunft Kirchen genutzt werden, die nicht mehr unmittelbar für das Gemeindeleben gebraucht werden und warum er täglich in der Dachkammer das Zwiegespräch mit Gott sucht – das sind unter anderem die Themen, auf die Superintendent Dr. Manuel Schilling im dritten und letzten Teil des Sommer-Interviews eingeht.

Im morgendlichen Gebet in der Dachkammer suchen Sie das Zwiegespräch mit Gott. Schimpfen Sie da auch mal mit dem Herrn; lesen ihm gar die Leviten? 

Schilling: Ich bin kein Hiob, und auch kein religiöser Kraftprotz. Mich beschleicht in der Stille eher der Zweifel, das Misstrauen, manchmal die Verzweiflung: „Hallo, gibt es dich überhaupt, zu dem ich in die Leere rufe, und dessen Name ich vor den Leuten in den Mund nehme.“ Heute war so ein Tag. Ich konnte nicht beten. Da habe ich auf meinem Teppich draußen – derzeit meditiere ich auf der Terrasse – gekniet und den Vögeln zugehört. Die haben ihren Choral gesungen und das Gebet gesprochen, das mir nicht gelingen wollte. Am Ende dann ein Vater Unser. Das war’s.

Das unfassbare Leid der Menschen in der Ukraine, Hunderte Menschen, die auf Ihrer Flucht für ihren Traum auf ein besseres Leben im Mittelmeer ertrinken, unfassbare Naturkatastrophen – hat Gott die Menschen vergessen, hat er Wichtigeres zu tun, als den Schwachen und Beladenen beizustehen?

Gott hat nichts Wichtigeres, als den Geplagten und Vergessenen beizustehen. In den letzten Monaten habe ich die Vorlesung von Karl Barth gelesen, die er im Jahr 1946 in den Ruinen des Bonner Schlosses vor den entwurzelten jungen deutschen Studenten gehalten hat. Er setzt da die „Allmacht Gottes“ einer falschen Vorstellung der „Absoluten Macht an sich“ entgegen, die in die Tyrannei geführt hat. Die Allmacht Gottes bindet sich nämlich an das Recht. Dieses Argument hatte damals angesichts des gescheiterten totalitären NS-Staates Bestand und hat es heute gegenüber einem neoliberalen Individualismus mit technischen Allmachtsphantasien. Karl Barth führt weiter aus: Dieser allmächtige Gott, der sich das Recht der Rechtlosen zur eigenen Sache macht, geht mit Jesus Christus den Weg der absehbaren Niederlage bis zum Kreuzestod. Dass dieser Gott in der Auferstehung Jesu Christi über das Böse triumphiert und das den Opfern zugute kommen lässt – das muss man allerdings glauben. Mich haben diese Gedanken der Stunde Null aus den Ruinen getröstet.

Zurück in den Kirchenkreis. Vor allem im Bereich von Soest und seinen umliegenden Gemeinden gibt es zahlreiche, historische Kirchen. Die sind nur noch selten gefüllt. Was soll mit ihnen mittelfristig geschehen?

Diejenigen Kirchen, die wir finanziell halten können und für unser Gemeindeleben brauchen, unbedingt behalten. Die anderen Kirchen umnutzen. Das kann in Kooperation mit anderen außerkirchlichen Partnern in kirchlicher Trägerschaft gehen. Das kann die Abgabe des Gebäudes bedeuten, und die Kirchengemeinde mietet sich ein. Das kann am Ende aller Möglichkeiten die komplette Abgabe ohne kirchliche Nutzung sein.

Das wird nicht überall auf Verständnis stoßen.

Nein, ganz sicher nicht; aber manchmal sind solche Entscheidungen, die sich niemand leicht macht, einfach alternativlos. Auf der einen Seite ist das bitter und tut weh. Da müssen wir uns nichts vormachen. An der Kirchengemeinde Lippstadt sehen wir auch, dass das nicht ohne Protest abgeht. Andererseits wäre es oft unverantwortlich, einfach weiterzumachen wie bisher. Es könnte dazu führen, dass wir nur noch Steine finanzieren und kein Geld mehr für Menschen haben. Und schließlich ergeben sich dadurch ganz ungeahnte Möglichkeiten, unsere Kirchen neu zu belegen und zu beleben, die oftmals leider viel zu oft leer und kalt stehen. Es gibt dafür schon inspirierende Beispiele aus ganz Europa.

Die Jugendkirche wird im Herbst in ihr neues Domizil in die Puppenstraße umziehen – also mitten in die Innenstadt von Soest. Welche Impulse erhoffen Sie sich von dort aus?

Die Jugendlichen in Soest werden einen Anlaufpunkt in der Innenstadt haben, wie es ihn so in ganz Soest nicht gibt. Diese niedrigschwellige offene Jugendarbeit bildet eine phantastische Plattform für weiteren Kontakt mit kirchlicher Jugendarbeit und einen Sammelpunkt für die Jugendarbeit in anderen Gemeinden in Soest und Umgebung. Mit den beiden Jugendreferent:innen Sascha Herchenröder und Nathalie David haben wir vor kurzem zwei hochmotivierte und kompetente Mitarbeiter:innen gewinnen können. Wir können uns auf einen echten Neuaufbruch freuen.

Sie sind häufig bis spätabends und auch an Wochenenden im Dienst. Wo finden Sie Ausgleich, was gibt Ihnen Kraft?

Meine Familie, das Violoncello, Gedichte.

 

Im kommenden Jahr wird es mit der Aufführung des von Ihnen geschriebenen Maria-Oratoriums ein kulturelles Großereignis in der Region geben. Worauf dürfen sich die Menschen bei „Maria – eine wie keine freuen“?

Auf ein einzigartiges musikalisches Cross-Over, eine vergnügliche Theaterinszenierung, ein interaktives Kunstprojekt für alle Generationen, einen zweiwöchigen Pilgerweg vom Sauerland bis an die Weser. Wer mehr wissen will, möge auf die homepage www.mariaeinewiekeine.de gehen.

 

Abschließend dürfen Sie dürfen eine Vision wagen? Wo steht die Kirche in unserer Gesellschaft in 50 Jahren?

Mit größter Wahrscheinlichkeit wird sie sehr viel kleiner sein als heute und alle Merkmale einer staatsanalogen Institution abgestreift haben. Sie wird in einer bunten Vielzahl kleiner Gruppen an vielen verschiedenen Orten kirchlichen Lebens existieren. Die Menschen werden Geborgenheit in der Gruppe und vor Gott erleben. Die Kirche wird von der Zahl her klein sein, von ihrer Wirksamkeit aber groß. Sie wird Salz der Erde und Licht der Welt sein.

Das tägliche Gebet ist für viele Menschen immer noch ein unabdingbares Ritual; auch der Superintendent beginnt so seinen Tag. Foto: pixabay