Mit der Faust in der Tasche

Erstellt am 16.02.2024

Die Gemeyne Bicht von Daniel von Soest ist bitterböse Abrechnung mit der Reformation

Franziska du Mont (Erwitte), die ihr Bundesfreiwilligenjahr in Jugendbauhütte Soest ableistet, und Dr. Norbert Wex mit der historischen Ausgabe der Gemeynen Bicht und der nun vorliegenden Übersetzung von Christian Fischer und Johanna Meyer. Foto: Hans-Albert Limbrock.

Von Hans-Albert Limbrock

Soest. Wer heutzutage Dampf ablassen will, wer mal so richtig wettern will gegen „die da oben“ oder gleich gegen „Gott und die Welt“, hat dazu im Internet - und hier besonders auf den Social Media-Kanälen - jede Menge Möglichkeiten. Im besten (oder schlechtesten) Fall kann man so Millionen von Menschen erreichen und auf diese Weise sein Gedankengut auch ungefragt in die weite Welt hinausposaunen.

Aber vor 500 Jahren? Da konnte man sich allenfalls auf einen Marktplatz stellen und seinem Ärger Luft machen – musste dann schlechterdings jedoch damit rechnen, gevierteilt zu werden oder am Galgen zu landen. Doch das war Daniel von Soest offenbar zu wenig und wohl auch zu riskant. Wohl auch deshalb dürfte er zum Gänsekiel gegriffen und die „Gemeyne Bicht“ (Öffentliche Beichte) verfasst haben, die von Historikern als „Ein gegenreformatorisches Schauspiel des 16. Jahrhunderts“ interpretiert wird.

„Darin geht es ziemlich zur Sache“, weiß Dr. Norbert Wex. Er leitet das Soester Stadtarchiv und ebenda wird ein historisches Exemplar dieser Schrift verwahrt. Es handelt sich vermutlich um eine Original-Ausfertigung des Autors, die mit dessen handschriftlichen Kommentaren versehen ist. „Er“, so Wex, „hat die Reformation verteufelt.“ Bitterböse sei seine Abhandlung. Mit teils deutlichen Kommentaren und Hinweisen auf historisch belegte Persönlichkeiten wie etwa Thomas Borchwede, der am 20. November 1531 das erste evangelische Glaubensbekenntnis von Soest verfasst und an die Tür des Patrokli-Domes genagelt hatte, rechnet Daniel von Soest mit der von Luther knapp fünfzehn  Jahre zuvor eingeleiteten Kirchenreformation ab.

Es haben sich schon viele Historiker und Wissenschaftler mit der Gemeynen Bicht beschäftigt. Sie gilt als ein bedeutendes Werk des Mittelalters und wird mitunter in einem Atemzug mit Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus genannt. Mit Christian Fischer und Johanna Meyer aus Münster haben sich nun erneut zwei Sprachwissenschaftler intensiv und äußerst akribisch mit dem Werk auseinandergesetzt und in den „Westfälischen Beiträgen zur niederdeutschen Philologie (Band 22)“ eine eindrucksvolle Übersetzung veröffentlicht.

Dr. Wex: „Das ist super, dass das jetzt vorliegt. Es handelt sich um eine äußerst sorgfältige Edition.“ Während im Original die Verse in niederdeutscher Reimform verfasst wurden, haben die Autoren im vorliegenden Band die Dialogform gewählt, was für eine  bessere Lesbarkeit und damit auch größere Verständlichkeit sorgt. Daniel von Soest – bei diesem Namen handelt  es sich zweifelsohne um ein Pseudonym – sei Zeitzeuge der Reformation gewesen, weiß Wex. „Er hat diesen Text mit der geballten Faust in der Tasche verfasst. Er ist boshaft und zutiefst satirisch.“

Inzwischen glaubt die Forschung auch zu wissen, wer hinter dem Tarnnamen Daniel von Soest steckt. „Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Soester Minorit Patroclus Boeckmann“, hat Dr. Ulrich Löer, Soester Historiker und langjähriger Vorsitzender des Geschichtsvereins, bereits 1991 geschrieben. Sein Kollege Christian Fischer hat dies einige Jahre später bestätigt: „Mit (…) Boeckmann haben wir einen höchstwahrscheinlich in Soest aufgewachsenen, hochgebildeten, ambitionierten und selbstbewussten katholischen Geistlichen vor uns.“

Während und auch noch Jahrhunderte nach der Veröffentlichung allerdings war das Pseudonym ein großes Rätsel, das die Soester Stadtgesellschaft intensiv beschäftigt hat. „Umso ärgerlicher war es für den Rat der Stadt Soest und die reformatorische Geistlichkeit, dass sie nach dem Autor dieser Schrift, die so viel Aufsehen erregte, vergeblich suchten“, schreiben dazu Christian Fischer und Johanna Meyer. Da alle Nachforschungen ins Leere verliefen, vermutete man, dass der Verfasser der Gemeyne Bicht unter dem Schutz des Kölner Rates stehen müsse.

Auch Dr. Hubertus Schwartz – der nach dem Krieg zunächst Landrat des Landkreises Soest und von 1948 bis 1953 Bürgermeister von Soest war – hat sich bereits in den 30er Jahren mit dem Text und seinem Autor beschäftigt. Allerdings konnte auch er das Rätsel nicht lösen. Immerhin stand für ihn fest: „Im Hinblick auf die Intention des Textes zeigt sich, dass es sich um einen scharfen Verfechter der altgläubigen Partei handeln muss, der mit den Waffen der poetischen Satire die Soester Reformation und die sie einführenden Persönlichkeiten zu bekämpfen suchte.“ Schwartz spricht davon, dass die Darstellung darauf ziele, die Reformatoren „in jeder Beziehung als moralisch im höchsten Maße minderwertig und nur den gemeinsten Lüsten anhängend zu erweisen.“

Beispiel gefällig? „Nein, Thomas, das kann so nicht gehen. Deine Vergehen sind nicht gering. Du läufst Tag und Nacht auf der Straße herum, säufst dich voll wie ein Affe, du gehst zum Bier und zum Wein, wälzt dich im Dreck wie ein Schwein (…).“

Der historische Text umfasst 3520 Verse sowie einige Lieder. Mit der nun vorliegenden Übersetzung kann man in ein spannendes Stück Soester Stadtgeschichte bestens eintauchen. Dazu schreiben Fischer und Meyer: „Der Inhalt der Gemeynen Bicht orientiert sich an den Ereignissen des Reformationsbeginns in Soest und umfasst in etwa den Zeitraum von 1531 bis 1534. In satirischer Überzeichnung von Szenen aus der Soester Reformationsgeschichte werden die auftretenden Figuren des Spiels als durchtriebene, nur auf den eigenen Vorteil bedachte und gotteslästerliche Figuren dargestellt.“ Den Siegeszug der Reformation in Soest und zahlreichen Börde-Dörfern konnte allerdings auch Daniel von Soest mit seiner Schrift nicht aufhalten.