Stolpersteine der Erinnerung

Erstellt am 21.12.2023

Gedenken an jüdische Familie Meyerhoff/ Witwe schaut aus dem fernen New York zu

Etwa 40 Interessierte waren bei der Verlegung und dem anschließenden Gedenkakt dabei.

Von Thomas Brüggestraße

Körbecke/New York. Es ist nachts um halb drei, als Shi Hong Aldin aufsteht, und es ist noch dunkel in Amerika. Gunter Demnig schaut derweil in ein großes Loch. Das haben ihm fleißige Frühaufsteher vom Bauhof vorbereitet. Früh an einem Montagmorgen im Dezember. Direkt vor dem Haus Nr. 10 am Kirchplatz. Früher war dort einmal der Eingang einer Metzgerei. Lang ist es her. Die verzweifelten Rufe derjenigen, die man hier aus dem Haus gezerrt hat, um sie in „Schutzhaft" zu bringen – der Wind hat sie davon getragen.

Die Zeit sollte ihre jüdischen Namen zermahlen in den nächsten tausend Jahren. Die Erinnerung an sie, an jüdisches Leben. Und doch lebt mit Franz Giese immer noch ein Zeitzeuge in Körbecke, der es miterlebt hat und bohrend die Frage stellt: „Warum das alles? Die Leute waren geschätzt und angesehen im Ort - sie waren beliebt und großzügig gegenüber allen. Der Mann war im Schützenverein und hat die Feuerwehr mit begründet - was hatten diese Menschen den Körbeckern getan?“

Über diese Fragen und diese zwei Leben soll künftig jeder stolpern können, wenn er am Kirchplatz vorbeikommt: Je ein Stolperstein für Meyer, genannt Max, und seine Frau Henriette Meyerhoff sind jetzt vor dem Haus ins Pflaster eingelassen. Beide Steine laden zum Innehalten, zum inneren Verbeugen, Gedenken und Nachdenken ein. Wenn man sich umdreht, kann man sich demnächst an einer Informationstafel auf einem Edelstahl-Gestell gegenüber an der Hecke zum Kirchhof die Geschichte der Familie ins Leben rufen.

Perfekte Maßarbeit

Es ist nachts um Viertel vor drei in New York, als Shi Hong nach dem Smartphone greift. Es ist Viertel vor neun in Körbecke am Kirchplatz, als Gunter Demnig seinen großen Gummihammer beiseite legt, mit dem er die beiden Stolpersteine in Position geklopft hat. Den Rest werden Fleißige vom Bauhof erledigen, sagt er, und dass das Loch vielleicht in bisschen tief war: „12 Zentimeter, das gebe ich immer so vor", sagt der Künstler mit einem nachsichtigen Lächeln: „War aber jetzt nicht so schlimm wie einmal im Erzgebirge. Da hatte ich mehrere Steine gleichzeitig zu verlegen. 50 mal 50 Zentimeter habe ich als Maß angegeben für die Fläche. Das Loch war dann gleich auch fünfzig Zentimeter tief. Das, das nenne ich Arbeit... Also, alles halb so schlimm."

Zehn Tage am Stück sei er aktuell unterwegs, erzählt der Erfinder der Stolpersteine, die inzwischen in 31 Ländern Europas jüdischen Menschen wieder einen Namen geben, Stein für Stein und handgetriebener Buchstabe für handgetriebenen Buchstaben, die ihr „Warum nur?" fragen. Damit sich ein derart monströses Verbrechen nie wiederholt. Wer war es? Die Nazis nur - oder doch die Deutschen? „Es ist nicht die Zeit für Schuldzuweisung, es ist die Zeit für Erinnerung und für ein Leben ohne Hass", so wird es wenig später Meinolf Padberg sagen, Ex-Lehrer an der Möhneseeschule und Mit-Moderator einer Bildungs-Partnerschaft zwischen Gemeinde und Schülern aus vielen Klassen an der Sekundarschule.

Die ersten Körbecker treffen ein, und Interessierte aus der Nachbarschaft: Es ist das erste Mal, dass in Möhnesee Stolpersteine verlegt werden. Und weil es das erste Mal ist, ist auch Gunter Demnig persönlich da. Schade eigentlich: Weil sein Terminplan eng ist, ist keine Zeit für eigene Worte. Er hört aus der letzten Reihe zu, was andere erzählen, dann steigt er wieder in seinen Transporter und macht sich auf den Weg mit sieben weiteren Stolpersteinen für andere Häuser, aus denen sie die Menschen gezerrt haben. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Weil sie Juden waren. Weil sie verhasst waren. Und es beginnt schon wieder. Oder hat es nie aufgehört?

Gemeinde voller jüdischer Geschichte

Shi Hong, sie ist die Witwe von Dr. Dr. Peter Aldin, dem letzten Überlebenden der Meyerhoffs, der letzten jüdischen Familie in Körbecke. Sie hat jetzt eine Verbindung mit Meinolf Padberg, und der lässt sie über das Handy von New York aus zusehen, wie in Körbecke um die 40 Leute vor dem Haus Nr. 10 stehen. Dort, wo früher Meyerhoffs eine Metzgerei betrieben. Bürgermeisterin Maria Moritz begrüßt alle und besonders den Künstler Gunter Demnig und berichtet vom großen Zusammenhang: „Unsere Gemeinde Möhnesee ist ein Ort, der einst voller jüdischer Geschichte war. Diese ist jedoch seit dem Zweiten Weltkrieg fast unsichtbar geworden. Wir haben es uns daher zum Ziel gesetzt, gemeinsam die jüdische Geschichte wieder sichtbar ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen und so ein dauerhaftes Erinnern zu gewährleisten."

Den Anfang machte demnach das Setzen des Gedenksteins im Jahre 2001 auf dem ehemaligen Jüdischen Friedhof in Körbecke, für den sich der Heimatverein Möhnesee engagiert hatte. Die seit 2020 bestehende Bildungspartnerschaft des Gemeindearchivs mit der Möhnesee-Schule geht zurück auf eine Initiative der ehemaligen Archivarin Alicia Sommer und gab zunächst den Anstoß zur Schaffung von individuellen Erinnerungssteinen, die gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern gestaltet werden sollten.

Seit 2021 koordiniert Dr. Lena Lewald als neue Leiterin des Gemeindearchivs die Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938. „Institutionen in unserer Gemeinde, Jugendliche, die Evangelische und Katholische Kirche arbeiteten hier Hand in Hand zusammen“, lobte die Bürgermeisterin. 2023 sei die Rekonstruktion des alten Tores auf dem Jüdischen Friedhof und das Setzen einer Gedenkstele im Rahmen eines Projektes „GedenkART" mit Jugendlichen hinzu gekommen. Ein weiterer Bestandteil der Sichtbarmachung jüdischen Lebens zur dauerhaften Erinnerung stelle nun die Verlegung der Stolpersteine für Max und Henriette Meyerhoff durch den Künstler Gunter Demnig dar.

Maria Moritz weiter: „Mehr als 230 Jahre jüdische Geschichte sind fester Bestandteil der Geschichte der Gemeinde Möhnesee." Diese habe begonnen um 1703 mit der Familie Amberg. Ein Sohn der Familie habe die erste jüdische Metzgerei vor Ort betrieben. Sechs jüdische Familien hätten hier gelebt: Amberg, Nordheim, Busack, Bentheim, Stern/Feldmann und Meyerhoff. Die Metzgerfamilie Meyerhoff sei 1845 von Allagen nach Körbecke gezogen. Die Synagoge der jüdischen Filialgemeinde Körbecke existiere seit einem Brand um 1888 nicht mehr. Der Jüdische Friedhof habe zwar den Zweiten Weltkrieg überstanden, doch die Grabstätten und das alte Tor seien ab 1959/1960 einer „Instandsetzung“ des Geländes zum Opfer gefallen und beseitigt worden. Die Familie Meyerhoff sei die letzte jüdische Familie im Ort gewesen. Sie habe das Wohnhaus Körbecke Nr. 21, heute Am Kirchplatz 10, von der Familie Stern erworben. Maria Moritz: „Die Familie war im Dorfleben voll integriert, wohltätig, großzügig und sehr geschätzt."

Daran erinnerten auch die beiden Schüler Linus Kahlau und Tim Schneider. Sie und der ehemalige Möhneseeschullehrer Meinolf Padberg erinnerten an weitere Namen: Jacob Meyerhoff, auf den man schon 1890 in Körbecke geschossen habe. Der Zimmermann, der die Schüsse abgab, sei für sechs Monate ins Zuchthaus gewandert. Es werde weiter an der Familiengeschichte der Meyerhoffs geforscht, der Kontakt nach Amerika solle weiter gepflegt werden.

Positive Erinnerungskultur

Elly Abendstern, die Tochter von Max und Henriette Meyerhoff schrieb, so trug es Maria Moritz vor, 1948 in einem Brief an Karl Feldmann aus Körbecke: „Du nennst Körbecke 'Heimat'. Ich muss gestehen, dass ich dieses Gefühl nicht mehr kenne nach allem, was geschehen ist. Ich habe Deutschland sehr geliebt... Aber heute zieht mich gar nichts mehr nach Deutschland zurück, und das einzige Gefühl, das ich für Deutschland und sein Volk aufbringen kann, ist Verachtung und Hass." Dr. Dr. Peter Aldin hingegen wandte sich den jungen Menschen in Körbecke zu, als sie auf dem jüdischen Friedhof zum Gedenken beisammen saßen. In einer Videoschalte berichtete er aus Amerika nach Körbecke von seinen Gefühlen, baute eine Brücke der Freundschaft.

In New York war es vier Uhr in der Frühe. Shi Hong Aldin lächelte in ihre Kamera und zeigte sich gerührt von der Gedenkveranstaltung. Im Gespräch mit Maria Moritz versprach sie, dass der Kontakt nicht abreißen werde und dass sie weiter an einer positiven Erinnerungskultur mitarbeiten wolle, zusammen mit den Schülern an der Möhneseeschule und allen in Körbecke, die sich beteiligen mögen.

Die ersten Stolpersteine überhaupt in Möhnesee verlegte Künstler Gunter Demnig persönlich. Fotos: Thomas Brüggestraße

Linus Kahlau (rechts) legt gemeinsam mit Tim Schneider Rosen an den Stolpersteinen nieder und entzündet eine Kerze. Die beiden Schüler der Sekundarschule Möhnesee haben sich im Unterricht mit jüdischem Leben in Körbecke befasst und wollen dranbleiben am Thema.

Hans Jungmann, der katholische Pfarrer Ludger Eilebrecht und Künstler Gunter Demnig kurz nach der Stolperstein-Verlegung und der anschließenden Gedenkstunde.