Während des Unterrichts fallen Bomben

Erstellt am 01.04.2022

In der Thomästraße sind über vierzig Flüchtlinge untergekommen / Die meisten von ihnen sind Kinder

Fast unter dem Dach des Hauses in der Thomästraße haben die Kinder ihren Spielbereich. Für ein Foto mit Dolmetscherin Elvira Turanica (links) und Johannes Berger (2. stehend von rechts) haben sich auch die Erwachsenen hier eingefunden. Fotos: Hans-Albert Limbrock

Von Hans-Albert Limbrock

Soest. Es sind Geschichten wie diese, die die ganze Perversität und Menschen verachtende Absurdität des Krieges in der Ukraine bis in unsere Gegenwart tragen: In einem Haus in der Thomästraße leben aktuell über 40 Flüchtlinge, die meisten von ihnen Kinder. Nach tagelanger Flucht sind sie endlich etwas zur Ruhe gekommen. Können durchatmen und ein wenig Frieden finden. Eigentlich. Denn während die älteren Kinder online am Unterricht in ihrer Schule in der Ukraine teilnehmen, schlägt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Schulgebäude eine Bombe ein und lässt die Übertragung auf den Bildschirmen erschüttern. So passiert vergangene Woche.

„Unfassbar“, schüttelt Johannes Berger ratlos den Kopf. „Dass Kinder so etwas erleben müssen, ist einfach furchtbar.“ Als Geschäftsführer der Holzbaufirma Materio ist Berger Miteigentümer des Hauses in der Thomästraße. Er musste keine fünf Minuten überlegen, als Uwe Kückelheim von der gleichnamigen Firma aus Anröchte vor knapp vierzehn Tagen anrief und fragte: „Da sind einige Familien aus der Ukraine auf dem Weg zu uns. Habt ihr nicht noch irgendwo Platz? Könnt ihr da was machen?“ Der Stuckateur unterhält geschäftliche Kontakte in die Ukraine, hatte immer wieder mal Arbeiter aus dem nun vom Krieg so gebeutelten Land beschäftigt.

Der Anruf von Berger beim Miteigentümer des Hauses war praktisch nur Formsache; sofort stand fest: „Wir helfen!“ Ursprünglich, so Berger sollte das Gebäude im Soester Zentrum im Sommer renoviert werden: „Aber das kann warten. Das hier ist jetzt wichtiger.“ Mit befreundeten Handwerkern (Berger: „Davon haben wir Gott sei Dank genug“) sind die Räume, die seit kurzem leer standen, für die Gäste auf Zeit im Rekordtempo hergerichtet worden. Berger: „Am ersten Wochenende im März haben alle mit angepackt.“ Sogar zwei Küchen wurden noch schnell eingebaut.

Jetzt haben 44 Menschen hier erst einmal eine Bleibe gefunden. Erste sind bereits weitergereist zu Verwandten nach Freiburg, andere sind dafür neu gekommen. Im Lauf der Woche werden sechs weitere erwartet. Platz ist genug da. Über 350 Quadratmeter Wohnfläche stehen in dem mehrgeschossigen Gebäude zur Verfügung. Zuletzt hatte hier eine studentische Wohngemeinschaft ihre Bleibe. Ganz oben, auf einer Art Empore, haben die Kinder sich so etwas wie ein kleines Spielparadies geschaffen. Hier können sie zumindest für ein paar Stunden die Schrecken des Krieges und der Flucht vergessen.

Berger: „Es hat von der ersten Minuten an eine unfassbare Welle der Hilfsbereitschaft gegeben. Innerhalb kurzer Zeit wurden Spielzeug, Anziehsachen und Lebensmittel gespendet.“ Sogar Fahrräder stehen den Kindern zur Verfügung, mit denen sie dann in den nächsten Tagen zu den Kitas und Schulen fahren können. Denn das steht für die Eltern fest: Das Leben soll für die Kinder so normal wie nur irgend möglich gestaltet werden.

Bei den notwendigen Gängen zu den Behörden und Ärzten werden sie von Elvira Turanica unterstützt. Sie ist gebürtige Ukrainerin, lebt aber schon seit über fünfzehn Jahren in Soest. „Ein Glücksfall für uns und die Menschen, die hier wohnen“, lobt Berger. „Ich helfe gerne“, gibt sich die Soesterin bescheiden.

Wie es für sie alle weitergehen soll? Man blickt in ratlose Gesichter. Das weiß keiner so genau. Und selbst wenn die Waffen irgendwann schweigen und es so etwas wie Frieden geben sollte – zurück in die Ukraine? Die Jüngeren schütteln die Köpfe. „Sie möchten in Deutschland bleiben“, übersetzt Turanica. Zu groß ist die Angst, dass der russische Aggressor aus dem einst befreundeten Nachbarland keine Ruhe geben wird und es nur eine Frage der Zeit sein wird, dass der Krieg wieder aufflammt.

Aber das ist ohnehin alles ferne Zukunftsmusik. Jetzt zählt erst einmal nur eins: Sie sind in Sicherheit. „Dafür sind wir sehr, sehr dankbar. Danke für alles, was man für uns getan hat“, übersetzt die Dolmetscherin die Worte von Julia.

In der Küche wird gemeinschaftlich gekocht. Hier treffen sich auch die Kinder zu den Mahlzeiten.