Diebe räumen Bücherschrank leer

Erstellt am 14.06.2022

Kostenloses Angebot des Lions Clubs Soest-Hellweg wird systematisch geplündert

Therese Yserentant, Sylvia Hinrichsen-Röhl und Club-Präsident Andreas Liebald sehen nicht ein, warum sie den Schrank weiterhin befüllen sollen, wenn Einzelne ihn systematisch leerräumen, vermutlich, um die Bücher im Internet zu verkaufen. Fotos: Klaus Bunte

Von Klaus Bunte

Soest. Ein reichhaltiges und ansprechendes Angebot sieht anders aus. Ein paar Krimis im Taschenbuchformat, Uralt-Ratgeber für Traumhochzeiten aus Zeiten, da die Ehe noch als alleiniges Lebensziel einer Frau gepriesen wurde: So präsentierte sich im Mai der öffentliche Bücherschrank im Theodor-Heuss-Park und wirkte nur noch wie eine nicht einmal halbvolle Resterampe. Doch das hatte nachvollziehbare Gründe, und die gab es als erste Lektüre, bevor man überhaupt noch in eines der wenigen Bücher seine Nase steckt.

Säuberlich laminiert prangte auf beiden Acrylglastüren des Schranks, von denen eine obendrein gerade von Vandalen beschädigt wurde, der Hinweis des Lions Clubs Soest-Hellweg, der sich um den Schrank kümmert und ihn auch bestückt: „Wir haben mit großer Freude gesehen, wie gerne dieses Angebot von Ihnen angenommen wurde. Leider müssen wir in den letzte Wochen feststellen, dass der Schrank immer wieder systematisch geleert wird, so dass jede neuerliche Befüllung sinnlos erscheint, da sie am Sinn und Zweck des Bücherangebots für ALLE eindeutig vorbeigeht. Wir haben uns daher entschlossen, keine weiteren Bücher einzustellen, arbeiten aber an einer befriedigenden Lösung des Problems und hoffen sehr, Ihnen baldigst wieder mit einem wohl gefüllten Schrank Freunde bereits zu können.“

Der Hinweis irritierte auf den ersten Blick. Wer räumt denn einen Bücherschrank aus? Wie will man die verkaufen? Wer zum Beispiel gesehen hat, wie schlecht Bücher sich auf Flohmärkten oder den Büchertischen bei Stadtfesten verkaufen, bekommt da seine Zweifel. Auch Antiquariate winken ab bei Massenliteratur.

Die Lions gehen dennoch davon aus, dass hier jemand ein Geschäftsmodell entwickelt hat.  Sylvia Hinrichsen-Röhl: „Es gibt Verkaufsportale im Internet, die machen es einem sehr leicht, gebrauchte Bücher zu verkaufen. Da gibt man nur die ISBN-Nummer ein, das Portal sagt Ihnen dann, wie viel Sie dafür bekommen. Das packen Sie dann alles in einen großen Karton, schicken es hin, und dann bekommen Sie Geld dafür.“

Und beim Angebot der Lions erscheint dies durchaus lukrativ. Denn Sylvia Hinrichsen-Röhl nimmt sich neben ihrer eigentlichen beruflichen Tätigkeit noch die Zeit, ehrenamtlich über Facebook zu Buchspenden aufzurufen, die Anbieter sogar abzufahren, dafür kreuz und quer durch die Börde zu jetten, hat letztlich also auch noch Einbußen durch die Spritkosten – nur, damit andere sich das Portemonnaie füllen: „Wir haben da ein ausgesprochen gutes Netzwerk, bekommen hin und wieder auch Konvolute von den örtlichen Buchhandlungen, und wir bedanken uns bei den Spendern auch mit kleinen Geschenken zum Dank.“

Sie stelle somit ausgesprochen neue und erst kürzlich erschienene, nur einmal gelesene Bücher ins Regal, „die sind in einem erstklassigen Zustand. Die zu verkaufen ist ein Leichtes“, ist sie überzeugt. „Diese Beschaffung ist mühsam, aber wir haben uns eben auf die Fahne geschrieben, dass wir nicht die abgenagten Titel, die schon hundert Leute in der Hand hatten, haben wollen. Auch ich würde mich bei so einem Schrank nur wiederfinden, wenn ich dort Titel vorfinde, die ich noch in die Hand nehmen möchte. Aber aktuell leert sich der Schrank schneller, als wir ihn überhaupt wieder auffüllen können. Dabei kamen wir zeitweise zwei- bis dreimal die Woche mit mehreren hundert Büchern. Am folgenden Tag waren sie weg.“

Auch Therese Yserentant schaut gelegentlich nach dem Rechten und hat die Erfahrung gemacht: „Dabei gibt es schon eine Qualitätsauswahl.“ Sprich, die Ladenhüter bleiben, aber alles Verkäufliche wird auf einen Schlag entwendet. Denn wozu veraltete Lexika und Ratgeber und vergilbte Angélique- oder Simmel-Schmöker mitnehmen, wenn der Versand teurer kommt als der Erlös?

Als Beleg dafür, wie richtig die Lions mit ihrem Verdacht liegen mögen, darf man werten, dass sie nicht alleine damit sind. Auch im Soester Ortsteil Ampen hat man diese systematische Räumung beobachtet. Um den Schrank, der seit zwei Jahren am Ende der Straße Im Scheuning direkt an einem alten Schlagbaum – daher passend dazu in Gestalt eines Wachhäuschens –  steht, kümmert sich Brigitte Jansen. Auch sie sortiert, wenn der Bücherschrank zu voll wird, alte Kamellen aus, um das Angebot attraktiv zu halten. Doch sie hat ein passendes Abwehrmittel gegen die Bücherdiebe gefunden: Einen Stempel samt Stempelkissen.

„Vor ungefähr einem Jahr habe ich das erstmals beobachtet“, berichtet sie. „Ich habe viele Freunde, Bekannte und Nachbarn, die wissen, dass ich das Häuschen betreue, und die bringen mir schon mal ganze Kisten voller Bücher. Und dann habe ich einen ganzen Schwung bekommen, kurz darauf fehlten 40 neuwertige Bücher auf einen Schlag. Zuerst dachte ich mir noch nichts dabei, hatte hier noch einen weiteren großen Karton stehen, räumte neu ein, kurz darauf waren wieder 40 Bücher weg. Ich war so sauer und verletzt und habe mich gefragt, was kann ich tun? Insofern kann ich die Lions verstehen. Das fühlt sich in der Tat wie ein persönlicher Angriff an, wenn andere einem die Bücher anvertrauen und dann jemand daherkommt und alles klaut.“

Sie bat auch die Nachbarn, ein wachsames Auge auf den Schrank zu haben, dann kam die Idee mit dem Stempel. Für 13 Euro ließ sie ihn sich anfertigen, seither steht in jedem Buch auf der ersten Seite: „Eigentum vom Bücherschrank Ampen, nur zur kostenlosen Weitergabe“ – was natürlich nicht heiße, dass man das Buch nach dem Lesen nur in den Amper Schrank stellen dürfe, gerne auch in jeden anderen. Oder eben behalten.

Bürger sensibilisieren

Aber im Prinzip ist das Buch auf diese Weise entwertet. Das bewahrheitete sich, als sie einen mutmaßlichen Bücherdieb auf frischer Tat erwischte: „Ich weiß gar nicht, wie der Dialog mit dem jungen Mann, der da ziemlich viel in sein Auto packte, begann, aber die Atmosphäre war ziemlich aufgeladen. Im Laufe des kurzen Gesprächs sagte er irgendwann: Aber durch den Stempel werden die Bücher dann ja wertlos! Darauf sagte ich: Dann hat der Stempel seinen Zweck ja erfüllt. Und dieser Aussage kann man ja entnehmen, dass er sich erhoffte, die Bücher zu Geld zu machen, auch wenn er abstritt, derjenige gewesen zu sein, der zuvor schon die 80 anderen Bücher gestohlen hatte. Aber seit ich die Bücher so abstempele, ist nichts mehr passiert.“

Dass es zeitweise beim Bücherschrank in Ampen ähnlich abging, verwundert Sylvia Hinrichsen-Röhl nicht: „Wenn jemand gleich mehrere Schränke abgrast, dann bekommt er schon ein ordentliches Konvolut zusammen und kann damit durchaus seinen Lebensunterhalt bestreiten.“ Indes hat sie wieder begonnen, den Schrank im Heuss-Park zu bestücken. Nachdem das Problem publik gemacht wurde, wagte sie noch einen letzten Versuch und macht davon das weitere Handeln abhängig.

„An den ersten beiden Tagen hatte ich noch ich den Eindruck, es geht wieder los, der Schrank leerte sich überdurchschnittlich zügig“, berichtet sie. Doch dann hab es sich wieder normalisiert, „und jetzt habe ich den Eindruck, dass auch wieder mehr Menschen Bücher in den Schrank stellen, sodass er auch ohne mein wesentliches Zutun relativ gut gefüllt ist“.

Dadurch finden natürlich umso eher alte Schmöker ihren Weg in den Schrank, „aber ich versuche daher, ein Gleichgewicht zu halten, und stelle immer wieder einige neuwertige Bücher dazu“. Aber andererseits liege bei einer höheren Dichte älterer Bücher, die einen geringeren Erlös brächten, die Vermutung nahe, dass es sich für die Bücherdiebe finanziell nicht mehr lohne, zuzuschlagen.

Dem Amper Beispiel der Entwertung durch einen Stempel wolle sie nun folgen: „Wir hatten schon mal eine große Rolle mit Aufklebern, die man auch nicht mehr ablösen konnte, ohne die Innenseite des Einbands zu beschädigen. Allerdings hatten wir irgendwann aufgrund des zeitlichen Aufwands darauf verzichtet. Jetzt werden wir die restlichen Aufkleber aufbrauchen und uns danach vermutlich auch einen solchen Stempel anfertigen lassen.“

Weiterhin hoffen die Lions, dass die Soester durch die Berichterstattung etwas sensibilisiert werden und im Park die Augen aufhalten. Vorübergehend habe das Problem auch beim Schrank am Schlachthof bestanden. Auch die dort aufgestellte frühere Telefonzelle ist ein „Kind“ der Lions Soest-Hellweg. Aktuell sei dies aber nicht zu beobachten.

Aber vielleicht kennt der aktuelle Bücherdieb ihn einfach nur nicht. Direkt daneben stand bis zum vergangenen Sommer ein Verteiler der Soester Foodsharing-Gruppe. Die Regale voller geretteter Lebensmittel wurden ebenfalls systematisch leergeräumt von Leuten, die sich dort benahmen wie die Axt im Walde, weshalb das Angebot beendet wurde. Somit war der Bücherschrank schon der zweite aufwändige ehrenamtliche Einsatz für die Allgemeinheit, der durch den Egoismus Einzelner zu enden drohte.

 

Mit diesem Plakat weist der Lions Club Soest-Hellweg auf den Missstand hin. Obendrein haben Vandalen diese Tür gerade beschädigt, wie der Riss im Acrylglas zeigt.

Brigitte Jansen kümmert sich um den Amper Bücherschrank. Seit sie die Bücher stempelt, haben die Diebstähle nachgelassen.