Westfalen als kirchlicher Flickenteppich

Erstellt am 02.09.2022

Festvortrag von Historiker Dietmar Lange zum Jubiläum 175 Jahre evangelische Kirchengemeinde

Paul Köhler als Vorsitzender der Kupferhammer-Freunde bedankte sich bei Pastor Uwe Müller und Referent Dietmar Lange für den informativen Vortrag.

Von Hannah Löseke

Warstein. Westfalen ist ein kirchlicher Flickenteppich, sagt Dietmar Lange. Das war er früher schon und das ist er heute noch. Im stockkatholischen Sauerland, in dem die Leute laut Warsteins erstem evangelischen Pfarrer Carl Geck von der Außenwelt nur so viel erfuhren, „als sie nach dem väterlich bevormundenden Ermessen der Priester erfahren sollten“, dauerte es deshalb, bis der evangelische Glaube einzog. 1857 aber wurde die erste evangelische Kirche, die heutige Martin-Luther-Kirche, errichtet und mit Carl Geck kam der erste Pfarrer. In diesen Tagen wird also der 175. Geburtstag evangelischen Lebens gefeiert – und den Veranstaltungsreigen eröffneten die Kupferhammerfreunde mit Dietmar Lange und dem Vortrag „175 Jahre evangelisches Leben in Warstein“.

Dietmar Lange ist katholisch durch und durch: Seine Tante ist Ordensschwester, sein Vetter Jesuit, er selbst katholischer Religionslehrer. Aber er ist eben auch begeisterter Historiker, hat schon vor 35 Jahren als junger Mann mit „Ecclesia Warsteinensis“ ein Buch über die damals 750-jährige Geschichte des kirchlichen Lebens in Warstein geschrieben und hat schon da auch auf die protestantischen Nachbarn geblickt. Und – so sagt Pfarrer Uwe Müller: Wer schon im Gymnasium in Geschichte ein Einser-Schüler ist, der kann das.

Uwe Müller freute sich aber besonders, dass der Veranstaltungsreigen zum Jubiläum nicht durch eine evangelische Organisation eröffnet wurde, sondern eben durch den Verein der Freunde und Förderer des Hauses Kupferhammer. Die seien nicht nur räumliche Nachbarn, betont Vorsitzender Paul Köhler, sondern teilen sich auch ein bisschen ihre Geschichte, schließlich war Johann Theodor Möller, der das Haus Kupferhammer 1750 erbaut hat, evangelisch und hat das reformierte Bekenntnis nach Warstein gebracht.

Das war übrigens schon 1829. Damals taten sich ein paar Protestanten, vor allem Industrielle, zusammen, bildeten eine Filialgemeinde der evangelischen Kirche Meschede und wurden bis 1857 von dortigen Predigern mitbetreut. Nimmt man das als Gründungsdatum, kann die evangelische Gemeinde schon 2029 wieder zelebrieren: „Mal gucken, wie feierlustig wir sind“, sagt Pfarrer Müller augenzwinkernd und ergänzt: „Bei dem, wie Kirche im Wandel ist, sollte man feiern. Wer weiß, ob es zum 200-Jährigen noch eine Kirche in Warstein gibt oder ob es dann schon noch größere Räume gibt.“ Schließlich sei die Aufgabe seiner Generation zu streichen, zu schließen und einzusparen.

„Ich feiere beides gerne“, betont Dietmar Lange. 1857 war übrigens auch ordentlich Party angesagt: Am 25. Oktober wurde die Martin-Luther-Kirche eingeweiht, am 1. November die Pankratiuskirche in der Ortsmitte. „Was muss das damals ein Feiern gewesen sein“, so Lange. „Miteinander glaube ich aber nicht.“

Er selbst fängt in seinem Vortrag noch lange, lange vor der ersten Idee, evangelischen Glauben nach Warstein zu bringen, an: Ab 1180 gehörte das Herzogtum Westfalen zum Erzbistum Köln. Der Kölner Erzbischof wollte sich aber auch die Grafschaft Arnsberg einverleiben, was erst 1368 gelingt.

Als Martin Luther 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg schlägt und damit die Reformation startet, kommt das in dieser Region erst einmal nicht an. Der erste Hauch evangelischen Bekenntnisses kommt mit dem Kölner Erzbischof Gebhard Truchseß von Waldburg (1547 - 1601), der im kurkölnischen Westfalen einen Reformationsversuch startete. Er heiratete seine protestantische Geliebte Gräfin Agnes von Mansfeld – das führte aber zu großer Aufruhr und zum Ende seiner Zeit als Erzbischof: Der Dom setzte mit Ernst von Bayern (1554 - 1612) nämlich einen neuen ein. „Der beendete zusammen mit dem Domkapitel die Reformationsversuche seines Vorgängers“, weiß Dietmar Lange.

Boshafte, erbärmliche Schurken

Ernst von Bayern war aber auch nicht besser: „Zeiten leidenschaftlichen Ungestüms wechselten mit schlaffer Trägheit ab. Er war unfähig, seine privaten Vorlieben zu zügeln. Zu einem ausschweifenden Lebenswandel gehörte die Neigung zu gutem Essen, zur Jagd und zu Liebesaffären“, zitiert Dietmar Lange. Seine Geliebte war die Jungfer Gertrud von Plettenberg, mit der er auch ein Kind hatte. Und sie hatte Bezug zum Stadtgebiet: Sie war zeitweise nämlich Verwalterin des Schlosses Hirschberg. Auch Ernst von Bayerns Nachfolger seien nicht immer „die geistlichsten, katholischsten und tollsten Leute“ gewesen. Der nächste riesig große Einschnitt sei aber um 1802/1803 durch Napoleon gekommen, der die Säkularisation, also die Trennung von Staat und Kirche, brachte. „Der französische Einfluss war riesig“, betont Dietmar Lange. Alle Klöster wurden aufgehoben, Warstein wurde landesherrlich Hessen-Darmstadt zugeschrieben – zumindest für 13 Jahre. Ab 1817 richtet der preußische König Regierungsbezirke ein – seit 1818 gehört Warstein zu Arnsberg.

Die katholische Kirche behält in Warstein trotzdem großen Einfluss. Protestanten gab es wenig, eine eigene Gemeinde nicht. Erste Annäherungsversuche startete schon Johann Christian Möller (1738 – 1816), der der katholischen Kirche einen Kelch stiftete, damit seine Frau Anna Amalia Eberhardi in Warstein beerdigt werden konnte, nicht in Neuengeseke, wo sie damals in die Kirche gingen. „Der Kelch ist typisch protestantisch“, so Lange. „Nicht irgendeine bildliche Darstellung, frühklassizistisch gehalten, als Andenken an seine verstorbene Ehefrau.“ Auch als Johann Christian Möller stirbt, wird er oben an der Alten Kirche bestattet.

„Kommen wir nun zur Gründung der Kirche“, sagt Dietmar Lange und erntet jede Menge Lacher. Der Laptop, mit dem Lange Bilder zeigt, zeigt nämlich an: „Dieses können wir bereits abhaken.“ Dabei geht es doch gerade erst richtig los: 1829 finden sich schließlich evangelische Männer aus der Region – das „Who is Who“ der Warsteiner Bevölkerung – zusammen, gründen einen Verein und werden zur Filialgemeinde der evangelischen Kirche in Meschede. Das war am 20. April 1829. Erste Gottesdienste werden in der Kreuzkapelle in Meschede gefeiert oder in der Agathakapelle, deren Altar heute noch in der Pfarrkirche St. Pankratius steht.

So freundschaftlich, wie das Verhältnis der beiden Kirchen heute ist, war es damals aber noch nicht: Als am 2. November 1844 der städtische katholische Friedhof eröffnet und eingeweiht wurde, stand die Frage im Raum, wo denn da evangelische Gläubige beerdigt werden. „Nicht zu nah am Kreuz“, sagte der damalige katholische Pfarrer, doch als die erste evangelische Bestattung stattfinden sollte – von Frau Wilhelm Hammacher, wählte die Stadt ein Grab ziemlich nah am Kreuz. Erst eine Stunde vor der Beerdigung fiel dem Totengräber auf, dass der Pastor das Grab nahe des Kreuzes wieder zugeschüttet hatte. Also musste doch ein Grab weiter weg genommen werden.

Da, wo heute der Parkplatz vor der Martin-Luther Kirche ist, stand früher das Barrierehaus. Das mietete die evangelische Gemeinde – damals für 25 Taler – als kleine private Schule und Kapelle.

1857 gab es endlich eine richtige Kapelle. Das Barrierehaus wurde später abgerissen, erst gab es eine Grünfläche, heute Parkplätze. Aber der damalige Pastor Carl Geck hatte es nicht leicht: In einem Brief schreibt er vom „infamen, ultrarömischen Betragen“ katholischer Schuljungen, die seinen Sohn Alex geärgert und geschlagen hatten. „Boshafte, erbärmliche Schurken“ seien sie gewesen.

So schlicht die Martin-Luther-Kirche damals geworden ist, so monumental war die Pfarrkirche St. Pankratius: Sie sieht fast genauso aus wie die Kirche in Lüdgeneder, weiß Dietmar Lange, nur drei Mal so groß. Ganz nach dem Motto: „Und jetzt zeigen wir, was wir machen können.“ Pastor Carl Geck schreibt dazu: „Heidnischer Pomp und Flitterstaat.“ Aber auch die Martin-Luther-Kirche hat eine künstlerische Besonderheit: die Kreuzigungsgruppe als besondere Zierde der Altaraspsis. Früher – ab dem 15. Jahrhundert – habe sie in der Alten Kirche gestanden, war dann lange bei einer Firma in Paderborn und ist schließlich in die Kapelle eingezogen.

Sowieso gebe es „großgroßgroßartige Kunstwerke“ – wie die an den Wandleuchtern, die 1938 in Form der siebenarmigen Leuchter in die Kapelle einzogen. „Toll“, findet Dietmar Lange. Das habe Pfarrer Hildebrandt veranlasst, als er gesehen hat, wie Nazis die Synagoge verwüstet haben, erklärt Uwe Müller. Der liest am Sonntag beim Gemeindefest übrigens aus der Chronik, die Pfarrer Carl Geck über die ersten Jahre in der evangelischen Gemeinde geschrieben hat. Das lohne sich, findet Dietmar Lange. Carl Geck war nämlich ganz schön spitzzüngig.

Interessiert folgten die Besucher dem Vortrag im Haus Kupferhammer. Fotos: Hannah Löseke