Der Anfang vom Ende der Illusion

Erstellt am 22.11.2019

Von Thomas Brüggestraße

SOEST. Innehalten im Kirmestrubel: Knapp hundert Menschen saßen am Samstagabend dicht an dicht im „Schiefen Turm" und gedachten auf Einladung des Rats christlicher Gemeinden der damals 153 jüdischen Mitbürger in der Stadt: Am 9. November 1938 steckten Soester ihnen die Synagoge und die israelitische Schule in der Osthofenstraße an; 25 Firmen und Geschäfte wurden zerstört, und auch in Soest haben Menschen mitgemacht oder aus Angst oder stiller Freude weggeschaut, geschwiegen, nicht geholfen, gnadenlose Ausrottung mit möglich gemacht. Auch die Kirchen schwiegen, obwohl sie nicht unmittelbar „gleichgeschaltet" waren. Daran erinnerte die Pfarrerin Leona Holler in ihrer Predigt zur knapp einstündigen Andacht.

„Es war der Anfang vom Ende, der Anfang vom Ende einer Illusion“, so zitierte die Pfarrerin aus den Erinnerungen von Margot Friedländer. Friedländer war damals 17, lebte in der jüdischen Gemeinde in Berlin.

Das Schweigen damals habe viele Gesichter gehabt, sagte Leona Holler weiter: „Auch die Kirchen, Protestanten wie Katholiken, sie schwiegen zu dieser maßlosen Gewalt, so, wie sie geschwiegen hatten zu den ersten Bauten der Konzentrationslager, der Entlassung jüdischer Beamter und dem Zulassungsverbot jüdischer Ärzte, zur Bücherverbrennung, zu den Nürnberger Rassegesetzen und den Enteignungen.“

Die beiden großen Konfessionen, sie hätten geschwiegen; unverzeihliche geschwiegen - Amtsträger und Kirchenvolk, wo sie hätten reden und helfen können – so bekenne es die Evangelische Kirche heute.

Holler mahnte: „Im Zusammenhang von Unrecht, von Hass, von Terror ist ein kollektives Schweigen fundamental gefährlich! Denn die Grenze zwischen mitleidendem Schweigen auf der einen Seite und mitleidlosem Schweigen auf der anderen ist eng, sehr eng, und vor allem ist sie für die, die ein Wort der Anteilnahme bitter nötig hätten, nicht erkennbar!“ Sie verwies auf das „Buch der Sprüche“ in der Bibel: „Tu Deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind!“

Anders als Margot Friedmann erlebten Menschen in der DDR einen anderen Anfang vom Ende, auch daran erinnerte Leona Holler: „In die Diktatur und den Terror des DDR-Regimes hinein haben Menschen vor genau 30 Jahren Lieder vom Frieden gesungen, haben Lichter aufgestellt, haben sich an den Händen gehalten, haben gebetet, haben mit ihren Füßen ellenlange Wege des Friedens geebnet.“

Holler weiter: „In die Totenstille von Halle hinein haben Menschen vor genau einem Monat Lieder vom Frieden gesungen, gebetet, sich an den Händen gehalten, Wege des Friedens geebnet. Zeichen, die bitter nötig sind in diesen Zeiten. Zeichen, gegeben durch Menschen, die ihren Mund auftun für die Stummen und die Sache aller, die verlassen sind. Es ist an uns, welchen Weg wir einschlagen.“ Für Christen gebe es nur den einen Weg – sich dem Nächsten zuzuwenden.

Frauke Geisweid und Peter Schmidt begleiteten die Andacht musikalisch.

 

Knapp hundert Menschen saßen am Samstagabend dicht an dicht im "Schiefen Turm" und gedachten auf Einladung des Rats christlicher Gemeinden des Nazi-Terrors. Foto Thomas Brüggestraße