Schwieriges Thema gut verpackt

Erstellt am 29.01.2020

Von Bettina Mander

MARSBERG. (ma) Für den Ökumenischen Neujahrsempfang der beiden Kirchen in Marsberg, der diesmal in der Evangelischen Emmauskirche und anschließend im Gemeindehaus stattfand, hatten sich die Verantwortlichen ein anspruchsvolles Thema überlegt: „Suizid - Wenn das Leben aus den Fugen gerät“.

So wurde der ökumenische Gottesdienst vor dem eigentlichen Empfang auch von den beiden Klinikseelsorgerinnen der LWL-Kliniken Antje Hirland und Hildegard Himmel abgehalten. Ganz unterschiedliche Reaktionen habe es auf die Themenwahl vor der Veranstaltung gegeben, stellte Hildegard Himmel gleich zu Beginn des Gottesdienstes fest. Mancher sei deswegen dem Empfang ferngeblieben. Sie hoffte, dass die Anwesenden aber zu einem tieferen Verständnis kämen, mit Hilfe der Predigt und des anschließenden Vortrages.

Einfühlsam schilderte Pfarrerin Hirland in der Predigt einen Fall aus ihrer täglichen Arbeit: Ein Mann Anfang 40 kam zu ihr und erzählte ihr seine Geschichte. Die Eltern waren beide suchtkrank, die Mutter überstreng, der Vater viel zu weich. Phasenweise wuchs er bei Verwandten auf. Mit zwölf Jahren begann seine eigene Suchtgeschichte, zunächst mit Alkohol. Als er 14 Jahre alt war, tötete sich die Mutter selbst.

Trotzdem schaffte er den Hauptschulabschluss und schloss auch eine Ausbildung ab. Doch dann begann er, härtere Drogen zu nehmen. Er durchlief Entwöhnungen, doch die Sucht war nicht wirklich aufzuhalten. Nach einer weiteren Entwöhnung zog er in den Wohnverbund des LWL in Marsberg ein. Als Zeichen seiner Sicht auf das Leben, habe er dort unter anderem seine Wände komplett schwarz gestrichen. Eines Tages habe sie gehört, dass auch er sich das Leben genommen habe.

Aus dem Erzählten konnte man schon zwei der Risikofaktoren ableiten, die später auch Privatdozent Dr. Stefan Bender in seinem Vortrag beim Neujahrsempfang im Gemeindehaus darstellte: Sucht, aber auch vorherige Suizide in der Familie.

Ganz entschieden wandte sich Pfarrerin Hirland gegen den Begriff „Freitod“. Die Betroffenen seien alles andere als „frei“ in ihrer Entscheidung für eine Selbsttötung. Sie sehen keine Möglichkeit mehr, ihrem Leben noch eine Wendung zu geben. Der Suizid entwickle einen eigenen Sog.

Mit der Mischung aus sehr vielen verschiedenen, intensiven Gefühlen von Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Schuld, Mitleid, Ohnmacht, Wut und Zorn müssten Angehörige undFreunde  fertig werden. Mit einem Berg an Fragen, wie „Wie konnte er/sie uns das antun?“, „Warum hat er/sie sich keine Hilfe gesucht?“ „Hätten wir etwas tun können?“ blieben sie zurück. Aber auch Scham spiele eine Rolle. Hilfreiche Ratschläge und Bitten hatte die Pfarrerin für die Anwesenden: „Seien Sie bitte da, auch wenn es eine schwierige Situation ist

Eher wissenschaftlich, aber nicht weniger informativ und hilfreich, waren die Ausführungen des Ärztlichen Direktors der LWL-Klinik in Marsberg, Dr. Stefan Bender. Zunächst erklärte er die unterschiedlichen Stadien der Suizidalität. Diese reichen von passiven Todeswünschen „Ich wäre am liebsten tot“, Suizidgedanken „Ich könnte mich umbringen“ über konkrete Suizidpläne bis zu Suizidhandlungen.  Bei den ersten beiden Punkten bestehe nur eine mäßige Suizidgefahr, bei den beiden letzten hohe Gefahr.

Bei den Motiven stimmte Dr. Bender den Ausführungen der Pfarrerin in der Predigt zu. Auch er betonte die große Gefahr des Suizids im Alter. Motive seien hier vor allem Isolation, Einsamkeit und Krankheit. Unterscheiden müsse man zwischen Suizid und Suizidversuchen. Über Suizide wisse man viel, obwohl auch hier die Dunkelziffer wahrscheinlich sehr hoch sei. Im Jahr 2015 gab es beispielsweise 10.080 bekannte Suizide. Im Vergleich: Verkehrstote gab es 3.578 in dem Jahr.

Insgesamt geht Dr. Bender mit vielen anderen Fachleuten davon aus, dass einem Suizid zu 70 bis 100 Prozent eine psychische Erkrankung vorausgeht. Bis zu 90 Prozent der Fälle hätten etwas mit Depressionen zu tun. Bis zu 15 Prozent der an einer Chronischen Depression Erkrankten versterben durch Suizid, 30 Prozent der Erkrankten haben bereits einen Suizidversuch hinter sich. Daher sei es umso bedeutender, Depressionen zu erkennen und zu behandeln. Immer noch gebe es ein gewisses Stigma und Depressionen versteckten sich hinter körperlichen Symptomen.

Ein paar praktische Ratschläge hatte auch Dr. Stefan Bender für die Besucher des Neujahrsempfangs. Was kann man tun, wenn man merkt oder den Verdacht hat, dass jemand Suizidgedanken hat? Wie geht man damit um? Hier sei es wichtig, interessiert und empathisch zuzuhören, den Menschen ernst zu nehmen und wertzuschätzen, sein Selbstvertrauen, seine Selbstständigkeit und seine Kontakte zu fördern. Hat man eine Suizidalität tatsächlich erkannt, sollte man das ansprechen. Mancher Betroffenen sei froh, dass er endlich darüber reden könne.

Von einem geringen Handlungsrisiko könne man ausgehen, wenn jemand einsieht, dass er sich in eine Behandlung begeben sollte oder schon dabei ist, Hoffnung auf Besserung hat, Zukunftsperspektiven äußert  und sozial angebunden ist. Große Hoffnungslosigkeit, sozialer Rückzug, Verabschiedung von Menschen oder Dingen und konkrete Suizidpläne könnten hingegen zeigen, dass die Gefahr einer Suizidhandlung wirklich da sei. Im ganz akuten Fall müsse man vor allem Zeit gewinnen. Könne eine direkt bevorstehende suizidale Handlung verzögert werden, erhöhe sich die Chance, dass der Mensch überlebe, deutlich. Sei das geschafft, solle man vor allem zuhören und den Betroffenen zum Arzt oder in die Notfallambulanz begleiten.

 

Alles andere als leichte Kost bekamen die Teilnehmer des ökumenischen Neujahrsempfangs in Marsberg vorgesetzt. Fotos: Bettina Mander

Dr. Stefan Bender ist ärztlicher Direktor der Klinik in Marsberg.

INFOKASTEN

Möglichkeiten, wohin man sich wenden kann und soll, sind sowohl der Hausarzt, als auch, gerade in Marsberg, die LWL-Kliniken. Die Ambulanz für Erwachsene erreicht man unter Tel. 02992/6015000, ist sie nicht besetzt, ist der diensthabende Arzt unter Tel. 02992/6011000 zu erreichen, die für Kinder und Jugendliche rund um die Uhr unter Tel. 02992/6014000. Die Telefonseelsorge unter Tel. 0800 1110111 oder 0800 1110222 ist ebenfalls rund um die Uhr besetzt.