Es nimmt einen mit. Heftig!

Erstellt am 14.02.2020

Von Thomas Brüggestraße

SOEST. Levin Weitkamp und Lucija Filipovič von der Hannah-Ahrendt-Gesamtschule brauchten nicht lange mit der Scheuermilch und den Putzlappen, dann glänzten die beiden metallenen Stolpersteine vor Schuh-Lange in der Brüderstraße wieder. Schüler wie sie aus dem Abi-Jahrgang schauen zu, dazu welche aus der Sieben. Geschichts-Lehrer Christian Neuhaus begleitet sie. 

„Hier wohnte Jakob Rosenberg, JG. 1871, deportiert 1942, Theresienstadt, ermordet in Auschwitz“ ist auf dem einen Stolperstein zu lesen. Dass hier auch Emma Rosenberg wohnte, Jahrgang 1877 und ebenfalls in Auschwitz ermordet, auf dem anderen. Von Hand eingeschlagen sind die Buchstaben und Zahlen – ein Zeichen gegen die industrielle Tötungsmaschinerie der Nazis, die auch in Soest Juden und sonstwie Missliebige aus den Häusern zerrten, in Lager schafften und umbrachten. Auschwitz-Birkenau war so eine Hölle. Weit über eine Million Menschen starben dort: Kinder, Erwachsene, Alte. Zwei Schülerinnen lesen vor: Sie haben die Biografien der Rosenbergs recherchiert. Sie legen zwei weiße Rosen zu den Steinen, alle schweigen im Andenken.                    

75 Jahre ist es her, dass Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde. In Soest machten sich erstmals 400 Schüler aus unterschiedlichen Schulen auf den Weg, um die 21 Stolpersteine in der Soester Innenstadt zu putzen – sonst die Jahre machte das immer mal eine Schule hier, eine andere dort. Die Steine des Künstlers Gunter Demnig sollen immer wieder daran erinnern, dass auch und vor allem wo genau die Soester sich schuldig gemacht haben, sie sollen jeden anregen, zu hinterfragen, wie es so weit hatte kommen können.

„Wir müssen die Fehler der Vergangenheit aufzeigen“, sagt Levin: „Wir müssen für Toleranz und Offenheit eintreten“. Lucija Filipovič nickt: Hass bringt nichts. Leute ausgrenzen, das ist falsch, sagt sie. Seit Dezember haben sich alle im Unterricht auf den Gedenktag vorbereitet, erzählen die beiden Schüler: „Es macht sehr betroffen, man denkt mehr darüber nach, was diese Menschen durchmachen mussten.“ 

In der Nähe der Teichsmühle am Großen Teich liegen ebenfalls Schüler auf den Knien, diesmal aus der 12 vom Aldegrever-Gymnasium. Der Geschichtslehrer hier heißt ebenfalls Christian, mit Nachnamen aber König. Auch hier liegen hinterher weiße Rosen neben den Stolpersteinen, alle schweigen eine Minute.

So lief es an vielen Stellen in der Innenstadt: Im Netz lässt sich nachlesen, welcher Stein wo liegt, an wen damit erinnert wird. Die zweite und dritte Schulstunde war fürs Putzen, danach zogen alle Gruppen zum Rathaus und versammelten sich im Blauen Saal: Bürgermeister Eckhard Ruthemeyer dankte im Namen der Stadt: „Sie haben auf den Knien geschrubbt und Demut demonstriert.“ Ruthemeyer weiter: „Wir mahnen, damit wir nie wieder zu Tätern werden.“

Jungen und Mädchen der Ini-Gesamtschule Bad-Sassendorf, vom Alde, vom Archi, vom ConvoS, von der Hannah-Ahrendt-Gesamtschule und der Musikschule Soest sangen über die „Kinder der toten Stadt“ – so heißt ein „Musikdrama gegen das Vergessen“, das am 21. und 22. Februar für alle im Tagungszentrum Bad Sassendorf aufgeführt wird, am 25. und 26. Februar morgens für Schulen.

Sind Gedenktage wie der am 27. Januar zu formelhaft, langweilig oder lästig? Eckhard Ruthemeyer: „Wir alle brauchen solche Rituale, Jahrestage und Mahnmale. So entsteht ein gemeinsames Bewusstsein, so entsteht eine gemeinsame Kultur. Auf diese Weise sichern wir die humanen Werte, die unsere Gesellschaft in Deutschland prägen und lebenswert machen.“

In Bad Sassendorf an der Ini-Gesamtschule lief zur gleichen Zeit ein neunstündiger Dokumentarfilm: „Shoah“. Claude Lanzmann brauchte dafür keine Archivbilder mit Bergen von ausgemergelten Leichen. Er machte nur Interviews, er ließ Zeitzeugen der systematischen Judenvernichtung im Dritten Reich zu Wort kommen, Täter, Überlebende. Er reiste durch Europa, besuchte die Orte des Grauens: Treblinka, Sobibor, Auschwitz, Chelmno, Warschau, ließ dort die Kamera lange Fahrten machen. Es gibt nur Bilder aus dieser Zeit, von 1974 bis 1985. Und Gespräche.

 Etwa 90 Schülerinnen und Schüler der Ini-Gesamtschule haben sich „Shoah“ im Audimax angeschaut, alle gehörten zu den Jahrgangsstufen 10 bis 13. Eine Doppelstunde sollte jeder zuschauen beim Experiment von Geschichtslehrerin Hannah Simons von Bockum-Dolffs und der ganzen Fachschaft – viele blieben freiwillig länger, weil diese spezielle Sprache des Films sie tief im Herzen anrührte. „Das hatte ich so deutlich nicht erwartet“, sagt Hannah Simons hinterher.

Jakob Esser (18) findet: „Es war so bedrückend, zu hören, wie ein SS-Gruppenführer davon erzählte, wie sich in Treblinka die Leichen stapelten, weil es zu wenig Öfen gab. Davon, wie die Juden bettelten, doch lieber erschossen zu werden.“

Sophie Johänning (18) erinnert sich an eine Szene im Film, die in Polen entstand: „Der Organist im Ort erzählt tatsächlich, das alles sei den Juden passiert, weil sie Christus ans Kreuz genagelt haben…“ Was der Film mit ihnen gemacht habe? Beide sagen: „Es ist ein Schock, zu erfahren, was Menschen anderen Menschen antun können.“ Sophie Johänning erzählt, wie sie vor zwei Jahren in Buchenwald war: „Das sind Ruinen, aber das reicht schon: Es nimmt einen mit. Heftig!“

„Shoah“, der Film wird Thema bleiben im Unterricht in Bad Sassendorf, ebenso in Soest und Bad Sassendorf die Frage nach dem Warum dieses unvorstellbaren Grauens. Ob so etwas sich wiederholen kann? „In dieser Form nicht mehr“, glauben Jakob und Sofie, und geben damit die gleiche Antwort wie zuvor Levin Weitkamp und Lucija Filipovič, weitere Schüler ebenso. 

 

Jakob Esser, Geschichtslehrerin Hannah Simons von Bockum-Dolffs und Sophie Johänning zeigen das kleine Plakat zum Film „Shoah".

Geschichtslehrer Christian König vom Aldegrevergymnasium kniet hier mit zwei Schülerinnen vor den Stolpersteinen in der Nähe der Teichsmühle.

Schülerinnen vom Aldegrevergymnasium putzen die Stolpersteine in der Nähe der Teichsmühle. Mit dabei ist Geschichtslehrer Christian König.

Lucija Filipovič von der Hannah-Ahrendt-Gesamtschule hat die Stolpersteine vor „Schuh Lange“ in der Brüderstraße geputzt.

Die Abiturienten und Schüler aus der Sieben der Hannah-Ahrendt-Gesamtschule haben vor "Schuh-Lange" in der Fußgängerzone Stolpersteine geputzt und weiße Rosen niedergelegt.