Wo das Heute kein Morgen hat

Erstellt am 06.03.2020

Von Thomas Brüggestraße

BAD SASSENDORF. Gerade noch haben sie gespielt und sind herumgetobt. Das Geräusch eines heranfahrenden Zuges unterbricht die Idylle. Jemand ruft: „Schnell, schnell, versteckt Euch, sonst sind wir alle tot!“ Schatten schreiten hinter der Leinwand. Der Zug wird immer lauter. Licht aus. Stille. Licht an. Die kleine Lea steht auf der Bühne. Heilerde mit Theaterschminke hat sie sich ins Gesicht und ganz dick in die Haare geschmiert, so wie alle anderen auch. Alles ist trist - grau in grau. Lea fragt: „Wozu bin ich klein, wenn es kein Groß mehr gibt?“ Dana ist schon älter. Sie antwortet ihr: „Sei still, so fragt nur ein Kind.“

Der Chor der Kinder singt: „Die Blumen duften herrlich fein. Und blühen sie bald in voller Pracht, dann wird das Mädchen …. nicht mehr sein.“ Und sie singen zu vielen: „Wir sind die Kinder der toten Stadt. Der Stadt, in der das Heute kein Morgen hat.“ Man hört schon das erste Schniefen und Räuspern in Bad Sassendorf, im Saal des Tagungs- und Kongresszentrums: Diese Inszenierung rührt in ihrer Schlichtheit schon nach den ersten fünf Minuten ganz tief an. 65 folgen noch.

„Die Kinder der toten Stadt“ das ist ein Musikdrama über Kinder im Vernichtungslager Theresienstadt: Es ist Sommer 1944, eine Kinderoper soll es geben für internationale Gäste. Alles soll hübsch gemacht werden, alle Kinder sollen mitmachen, zeigen, wie schön und normal doch alles ist in der „geschenkten Stadt“, dass die Gerüchte über Konzentrationslager Unsinn sind. Die Kinder schöpfen Hoffnung: Können ausländische Gäste ihre Lage verbessern, können die Kinder frei werden? Ein fataler Irrtum: bis auf 100 werden alle 10.000 Kinder, die der Zug hierherbringt, hier auch sterben. Auch alle Akteure an der Kinderoper und alle, die den Auftritt für die Propaganda filmten.

Das Musikdrama lehnt sich an ein tatsächliches Drama: Es ist, so ist im Programmheft nachzulesen, inspiriert von den letzten Tagen des Komponisten Hans Krása. 1944 erhielt er in Theresienstadt den Befehl, mit den dort ebenso gefangenen Kindern seine Kinderoper „Brundibár“ zur Aufführung zu bringen. Die NS-Führung nutzte die Aufführung zu Propagandazwecken und als Vorzeigeprojekt bei einer Lagerbesichtigung durch das Internationale Rote Kreuz. Direkt nach der Aufführung wurden alle Kinder der Aufführung nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.

„Die Kinder der toten Stadt“ hatte 2019 Premiere in Frankfurt. Schüler von Schulen aus Soest und Bad Sassendorf haben das Drama erstmals in Deutschland mit einem reinen Schüler-Ensemble auf die Bühne gebracht. Die Musikschule Soest war sofort mit im Boot. Ein Ausrufezeichen gegen das Vergessen von Schülern für Schüler, das war die Projektidee.

Dr. Sarah Kass war tätig in der Gedenkstätte in Auschwitz und war 2018 und 2019 Referendarin an der INI-Gesamtschule in Bad Sassendorf. Sie gab den Anstoß, den Überlebenskampf der Kinder von Theresienstadt dem Vergessen zu entreißen – mit einem Musikdrama, mit balladenhafter Popularmusik, Dialogen und einem Erzähler für den Rahmen und die Einordnung.

 

Armgard Steinbrück leitet die INI-Gesamtschule in Bad Sassendorf. Sie gewann Altbürgermeister Antonius Bahlmann und den Soester Musikschulleiter Ulrich Rikus für das Projekt. Sponsoren machten die Aufführung im Tagungs- und Kongresszentrum überhaupt erst möglich.

Der Soester Bürgermeister Eckhard Ruthemeyer ist bei dieser Aufführung mit dabei, er lobt alle Beteiligten: „Sensationell gutes Projekt, ein Projekt für Werte und Haltung.“ Demokratie, sie falle einem schließlich nicht mal eben so zu.

Niemand schwatzt, oder kichert, niemand daddelt auf dem Handy, niemand von den 540 Schülern filmt. Von der Neun bis zum Abi sitzen sie im Saal des Tagungszentrums in Bad Sassendorf. Aus Soest vom Archigymnasium, von der Hannah-Arendt-Gesamtschule, vom Aldegrevergymnasium, vom Conrad-von-Soest-Gymnasium. Aus Ense von der Conrad-von Ense-Schule.

Andere Schulen waren am Tag zuvor da. Insgesamt gab es vier Aufführungen, zwei jeweils abends und öffentlich, zwei morgens für die Schulen, als Pflichtveranstaltung für die oberen Jahrgänge – alle haben im Unterricht den Holocaust zum Thema gehabt, die industrielle Menschenvernichtung durch die Nationalsozialisten. Sie haben mit Zeitzeugen gesprochen.

Armgard Steinbrück wendet sich vor dem Stück an alle Schüler im Saal: „Die Zeitzeugen sterben aus. Vergesst bitte nie Eure Verpflichtung: Ihr seid jetzt die Generation, die Erinnerung und Gedenken weitertragen müssen. Das Musikdrama heute, es ist keine Dokumentation – es ist ein zeitloses Signal gegen Gewaltherrschaft und den falschen Umgang mit Minderheiten. Und es ist keine leichte Kost.“ Das stimmte.

Eine Mahnung der Projektverantwortlichen am Ende des Programmhefts: Wachsam bleiben gegen die bösen Geister, die sich schon wieder zeigen! Erinnerungskultur sei weder lästig noch lächerlich, wie Björn Höcke von der AfD das behaupte.

Eine Inszenierung, die berührte und unter die Haut ging: Die Kinder der toten Stadt. Fotos: Thomas Brüggestraße

Durch das sensible Zusammenspiel von Licht und Schatten entstanden intensive Szenen.

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz halten derartige Inszenierungen die Erinnerung wach.

Mit erstaunlicher Intensität haben die Schüler die Rollen interpretiert.

Über 2000 Schülerinnen und Schüler haben die Aufführungen an vier Tagen mitverfolgt.

Sie gehörten zum Projekt

Albert, Hannah, Lisa, Dana, Benjamin, die kleine Lea und Michael, sie sind die tragenden Rollen des Stücks, singen auch solo. Elias Raddatz (Archi), Kristin Hilger (Archi), Hana Esser (Archi), Laura Erlach (Archi), Tim Belmann (Alde), Michelle Kipper (Archi) und Alina Kaps (INI) schlüpfen bei der Abschlussvorstellung in die Rollen.

Solo-Gesang: Hannah -Leonie Hagen (ConvoS), Emma Brieske (INI). Albert - Valentin Porsch (Archi). Lisa - Xenia Regehr (Archi). Dana - Darya Annina (Alde). Benjamin - Jule Marie Pater (Alde). Michael - Leyla Özcan (Alde). Lea - Mara Garmeister (Archi).

Gemeinsamer Chor aus Schülern aller fünf Schulen: Alina Kaps, Joelle Mistele, Mercy Bonney, Amelie Karrmann, Jule Marie Pater, Merle Blattmann, Anonia Abel, Jule Rinsche, Mia Anna Twesmann, Antonia Köhler, Julia Jiang, Michelle Kipper, Carina Coerschulte, Kaschka Krüger, Mona Manske, Charlotte Grigo, Kristin Hilger, Natalie Klassen, Darya Annina, Laura Erlach, Nele Posson, Elias Raddatz, Lara Sophie Sonntag, Nina Kökenhoff, Emily Tilke, Leyla Özcan, Paula Janzen Gallego, Emma Brieske, Louisa Klutz, Pia Möller, Evely Regehr, Lucy Bültmann, Simeon Mistele, Greta Hufnagel, Luna Holler, Sofie Kramer, Hanna Esser, Luna Jahn, Stelle Wegener, Hannah Rudolph, Maëlle Schreiber, Tim Belmann, Hannah Seeger, Mara Garmeister, Tim Oudendijk, Henrike Schütze, Marika Fleischer, Valentin Porsch, Ida Bachsleitner, Marlene Schnell, Xenia Regehr, Jannes Loer, Marlene Wertz, Zoé Zwalka, Jaron Sollbach, Melissa Xhafa.

Das Kreativ-Team: Henner Kallmeyer, Regie. Anne Koltermann, Bühnen- und Kostümbild. Thomas Tiete, Lichttechnik. Jan Hamers, Tontechnik.

Band: Frauke Geisweid-Kröger, Klarinette und Saxophon. Hartmut Kracht, Gitarre. Ivo Kassel, Bass. Patrick Hengst, Schlagzeug. Bettina Casdorff, Klavier und musikalische Leitung. Klaus Moenning, Erzähler. Kristin Eisen, Elke Henke, Christiane Stadler, Stefan Schwarz, Raynhild Hartung-Weyer, musikalische Einstudierung Chor. Bettina Casdorff, musikalische Einstudierung Solisten. Kristin Eisen, Stefan Schwarz, Bettina Casdorff, Musikarrangements und Bearbeitungen. Armgard Steinbrück, Antonius Bahlmann und Ulrich Rikus, Projektleitung.