Immer wieder aufreibende Grenzerfahrungen

Erstellt am 10.08.2020

Von Klaus Bunte

WERL - Manchmal führen ihre Erfahrungen die ehrenamtlichen Seelsorger schon an ihre Grenzen. Einmal wurde Wolfgang Karnath zu einer türkischen Familie gerufen, und der Einsatz sollte sich als sein bislang längster entpuppen: Denn muslimische Bestattungen laufen anders ab als christliche, und dazu hatte die Familie schon frühzeitig einen Vertrag mit einem türkischen Bestatter abgeschlossen – aus Köln.

Bis der da war, obendrein allein, so dass Karnath mit anpacken musste, und wieder fuhr, waren acht Stunden ins nächtliche Land gezogen. Und am kommenden Tag musste er ja wieder pünktlich auf der Matte stehen als Leiter der Wohnstätte St. Josef. „Das acht Stunden lang auszuhalten, war anstrengend, für die Angehörigen aber notwendig“, berichtet er. 

Anna Gerbens musste einmal nach dem Unfalltod eines Kinds dessen Familie beistehen. Dort herrschte entsprechend Aufregung, „die Familie war völlig durch den Wind, es wurde geschrien, wir mussten damit rechnen, dass Möbel durch die Wohnung fliegen“. Dort Ruhe hinein zu bekommen, war eine aufreibende Grenzerfahrung – eine, „nach der ich zu meiner Familie gesagt habe: Wir müssen jetzt zusammen essen, es feiern, dass wir leben, dass wir gesund sind“.

Um auf andere Gedanken zu kommen, „brauchte ich mehr als nur einen Kaffee danach“. Aber keine Erfahrung, nach der die Heilerziehungspflegerin gesagt hätte, dass sie das nicht noch einmal würde erleben wollen, „es war eher eine Motivation, weil ich gesehen habe, wie wichtig diese Aufgabe ist.“

27 sind im Einsatz

Die beiden Werler engagieren sich als ehrenamtliche Notfallseelsorger. Insgesamt 27 gibt es von ihnen im Kreis Soest, aufgeteilt nach den Altkreisen, sprich, die beiden kann es auch nach Bad Sassendorf verschlagen, nicht jedoch nach Lippstadt. Organisiert wird die Notfallseelsorge beim Evangelischen Kirchenkreis vom Anröchter Pfarrer Sven Fröhlich.

Die beiden Werler fanden über eine vergleichbare Motivation zu diesem Ehrenamt. „Mir geht es gut, ebenso meiner Familie, ich habe tolle  Freunde“, erzählt Anna Gerbens, „und ich dachte mir: Andere haben das nicht. Und aber gerade in Notsituationen braucht man so ein Netzwerk. Für diese Menschen kann ich mich einsetzen.“

Ähnlich bei Karnath: „Ich habe seit Jahrzehnten im sozialen Bereich mit benachteiligten Menschen zu tun, doch ich wollte mich auch außerhalb meiner beruflichen Tätigkeit engagieren. Da gibt es viele Tätigkeitsfelder. Doch eine Kollegin, die bereits in der Notfallseelsorge tätig war, erzählte mir davon. Ich dachte: Das ist eine schöne und wichtige Aufgabe, von er ich glaube, dass ich sie ausfüllen kann. Auch ich habe eine tolle Familie, drei Kinder, alle gesund und mitten im Leben, wir sind bisher von Schicksalsschlägen verschont geblieben, meine Arbeit macht mir viel Spaß. Aber es gibt nun einmal eben Menschen, die in schwierige Lebenslagen kommen und eben niemanden haben, der ihnen beisteht und etwas Zeit und Trost spendet.“

Wer sich dazu entscheidet, wird natürlich nicht blindlings in den ersten Einsatz geschickt. Er durchlauft zunächst über ein halbes Jahr hinweg eines 80-stündige Ausbildung, lernt dort auch, wie man selber Distanz gewinnt, damit ihn die Notfällen nicht selber belasten, dann folgt eine Praxisphase, in der man andere Seelsorger so lange begleitet, bis man sich selber sicher genug dazu fühlt.

In der Regel geht es darum, Angehörigen den Tod eines Familienmitgliedes beizubringen oder ihnen bei einem häuslichen Todesfall beizustehen: „Die Polizei hat zwar die Aufgabe, die Nachricht zu überbringen, dann gehen die Beamten aber wieder“, so Fröhlich. „Wir bleiben. Vieles nimmt man bei der Erstinfo nicht wahr, wir können es wiederholen, richten den Blick darauf, was die Hinterbliebenen brauchen.“

Jede Situation ist anders

Wolfgang Karanth ergänzt: „Und jede Situation ist anders, es gibt kein Schema, man muss sich immer neu darauf einstellen, das zählt zu den größten Herausforderungen. Mal trifft man auf jemanden, der kaum ein Wort sagen mag, mal auf jemanden, der am liebsten wegrennen möchte, dann wieder auf jemanden, der droht, die ganze Wohnungseinrichtung zu zerlegen. Man muss vor allem die Ruhe bewahren, und sei das Chaos noch so groß, auf das man vor Ort stößt. Zuhören, das ist entscheidend.“

Die Notfallseelsorge steht zwar unter kirchlicher Trägerschaft, „aber es geht dabei in keinster Weise ums Missionieren“, so Pfarrer Fröhlich. Religiöse Inhalte werden nur auf Wunsch vermittelt, „wenn eine Aussegnung oder eine Kerze gewünscht wird oder wir mit den Menschen beten sollen. Aber wenn sie das nicht wollen, dann ist das in Ordnung. Für mich ist die Notfallseelsorge eine Möglichkeit, meine Nächstenliebe konkret zu leben. Ein anderer würde das vielleicht so ausdrücken: Ich stehe meinen Mitmenschen bei. Nationalität, Alter oder Konfession spielen da keine Rolle.“ Als Notfallseelsorger können sich also auch Atheisten anbieten, für den Kirchenkreis kein Problem. Fröhlich: „Wenn vor Ort dann doch geistlicher Beistand gewünscht ist, dann fragt er eben einen Pfarrer an oder einen zusätzlichen Notfallseelsorger.“

Es sei jedoch kein reines Geben, „man nimmt auch selber immer wieder etwas für sich mit“, meint Karnath, wie bei der türkischen Familie: „Zwischen mir als christlichem Seelsorger und der muslimischen Familie herrschte eine große Offenheit. Wir erfahren ganz viel über diese Menschen, was sie sonst niemandem mitteilen würden. Da wird uns ganz viel Vertrauen geschenkt. Es ist eine kurze intensive Begegnung, nach der man sich aber vermutlich nicht wieder sieht. Der Kontakt zu diesen Menschen ist ja auf diesen Einsatz begrenzt, man weist auf Folgehilfen hin, die dann aber andere machen, zum Beispiel Trauergruppen wie Sommerland, Ärzte oder karitative Einrichtungen.“

Gesetzliche Regelung fehlt

Und jeder habe seine eigenen Methoden, die Einsätze zu verarbeiten, so Anna Gerbens: „Wir wissen, was uns gut tut. Das kann die Familie sein, ein Spaziergang oder Kaffeetrinken, der Austausch mit dem anderen Seelsorger, mit dem man im Einsatz war, und wenn nötig, gibt es auch vom Kirchenkreis Supervision und Hilfe.“

Ein Problem haben die Notfallseelsorger dennoch: Bislang werden sie im Gegensatz zu den Einsatzkräften der Freiwilligen Feuerwehr für ihre Einsätze nicht von der Arbeit freigestellt. Eine entsprechende gesetzliche Regelung sei jedoch in der Debatte, so Fröhlich.

„Und dann kann es Ihnen passieren, dass Sie in fünf Nächten Bereitschaftsdienst keinen Einsatz haben, ein anderes Mal gleich dreimal“, weiß Karnath aus Erfahrung. „Das ist nicht vorhersehbar. Doch dazu muss man bereit sein – und diese Bereitschaft ist bereits die größte Leistung. Man muss wissen, dass man während der Bereitschaft nichts machen kann, was verhindert, dass man sofort ausrücken kann. Selbst, wenn ich eine Runde mit dem Hund drehe, muss ich sehen, dass mich nicht weit vom Auto entferne, es muss stets in der Nähe sein, die Ausrüstung im Kofferraum.“ Anna Gerbens: „Das verlangt eigene Organisation. Statt daheim zu sitzen und zu warten, dass der Melder piept, lernt man, sein Leben zu leben trotz der Bereitschaft.“

Ausrüstung? Ja, jeder Notfallseelsorger bekommt eine Jacke, die ihn in seiner Funktion ausweist, „und sie erfüllt auch für uns eine wichtige Rolle: In dem Moment, da ich sie anziehe, bin ich Notfallseelsorger – in de Moment, da ich sie ausziehe, nicht mehr.“ Hinzu kommt ein Rucksack. Darin enthalten sind unter anderem eine Taschenlampe, eine Kerze, Süßigkeiten und ein Teddy für Kinder, Zigaretten, ein Ordner mit wichtigen Kontakten, Getränke für die Seelsorger und ein Erste-Hilfe-Set.

Anna  Gerbens hat im Laufe der Jahre eine wiederkehrende Erfahrungen gemacht: „Viele fragen: Was bekommen Sie dafür? Wir sagen: Gar nichts! Ich habe so lange Zeit, wie Sie mich brauchen. Dann sind die Leute erstaunt, dass jemand sich so viel Zeit nimmt. Eine mögliche Wut, die zu Anfang da ist, legt sich im Laufe der Zeit, und wir erfahren viel Wertschätzung, zum Abschied werden wir oft sogar in den Arm genommen. Und dann wissen wir auch, dass es sich gelohnt hat, hier einige Stunden verbracht zu haben.“

Notfallseelsorger gesucht

Das Arbeitsaufkommen der Notfallseelsorger sei riesig. Über 150 Einsätze gibt es durchschnittlich pro Jahr, so Pastor Sven Fröhlich, „von der Zahl her können wir mit den Einsätzen mit kleineren Feuerwehren mithalten. Wir brauchen eigentlich ständig neue Leute. Gelegentlich hört ja auch mal jemand aufgrund von Veränderungen im privaten oder beruflichen Umfeld auf, und wenn jemand Neues kommt, kann er ja auch nicht sofort anfangen, die Ausbildungen starten ja auch nicht jeden Monat neu.“

Wolfgang Karnath ergänzt: „Und es sind möglichst viele Seelsorger nötig, damit sich die Arbeit auf möglichst viele Schultern verteilt. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag über ehrenamtliche Bereitschaft mit mindestens zwei oder noch besser vier Personen abzudecken, das ist eben auch nicht ganz leicht. Sie müssen innerhalb von zehn Minuten den Einsatz übernehmen können.“

Interessenten können Kontakt aufnehmen mit Pastor Fröhlich unter Telefon 02947/3966 oder E-Mail nfs-soestdontospamme@gowaway.freenet.de.

Wolfgang Karnath und Anna Gerbens engagieren sich ehrenamtlich in der Notfallseelsorge, die auf Kreisebene vom evangelischen Pfarrer Sven Fröhlich koordiniert wird. Fotos: Klaus Bunte

Für viele Fälle gerüstet. Im Notfallkoffer befindet sich so einiges, das die Notfallseelsorger bei ihrer Arbeit unterstützt.

Ein kleiner Aufkleber weißt im Auto auf die besondere Aufgabe hin.