Putzen gegen das Vergessen

Erstellt am 04.02.2022

Siebzig Schülerinnen und Schüler betteiligen sich an Aktion Stolpersteine

Leon Neumeier aus der Klasse 9 der Sekundarschule in Soest putzt im Grandweg vor dem Haus Nr. 15 die Stolpersteine zur Erinnerung an Rosa und Johanna Zilversmit. Mia Brüninghaus (links) und Schulsprecherin Selin Ramsholli schauen zu und halten schon die weißen Rosen bereit, die sie später dazulegen wollen.

Von Thomas Brüggestraße

Soest . Am 27. Januar vor 77 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Was sie vorfanden, machte die Welt fassungslos. Seit 1996 ist der 27. Januar bundesweit ein gesetzlicher Gedenktag.

In Soest machten sich aus diesem Anlass wieder Schülergruppen auf den Weg, um die „Stolpersteine“ im Pflaster zu putzen, die vor Häusern in der Stadt daran erinnern, dass hier Kinder wie Erwachsene erbarmungslos aus den Häusern geholt und in die Vernichtungslager deportiert wurden – nur weil sie Juden waren.

Was folgte, macht noch heute schaudern und bleibt auf immer unverzeihlich. Überlebende des Grauens können nicht mehr lange den jungen Leuten von heute schildern, was sie in den 1930er und 1940er Jahren erleben mussten. Die Erinnerung wach zu halten, Menschen, vor allem die jungen, zeitgemäß nachhaltig zu erschüttern und damit für die Zukunft Gutes zu bewirken, es bleibt eine Daueraufgabe für die Deutschen, aber nicht nur für sie. Das sagen die Organisatoren der Stadt Soest, die wieder zum Putzen einluden – die Schulen ebenso.

Ungefähr 70 Schülerinnen und Schüler der Patrokli-Grundschule, der Sekundarschule, vom Archigymnasium und der Hannah-Arendt-Gesamtschule sind 2022 am Gedenktag unterwegs, haben sich an einem grauen und nieselkalten Januarmorgen 14 der insgesamt 21 Stolpersteine ausgesucht, die innerhalb der Wälle verlegt worden sind.

Vor der Hausnummer 15 im Grandweg putzt und poliert Leon Neumeier aus der 9. Klasse der Sekundarschule um kurz nach zehn Uhr am Vormittag die zwei golden schimmernden Messingtafeln, die von standartisierten Betonwürfeln im Format 96 mal 96 Millimeter getragen werden. Mia Brüninghaus und Schulsprecherin Selin Ramsholli schauen zu, gemeinsam mit weiteren Schülern aus der 9 und den Lehrern Konstantin Krummel und Christian Linde. Weiße Rosen haben die beiden Schülerinnen mitgebracht und dazu eine dicke weiße Kerze: „Wir zünden die Kerze hinterher an und legen die Rosen dazu“, erklären sie. „Das soll an die Menschen erinnern, die von hier aus deportiert worden sind.“

„Rosa Zilversmit, geborene Sonnenberg“ steht auf einem Stolperstein, das Geburtsjahr ist unbekannt. Daneben der Stein erinnert an Johanna Zilversmit, Jahrgang 1923. Beide wurden 1942 deportiert. Ihr Schicksal? Man kennt es nicht – drei Fragezeichen sind in die Messingplatten eingehämmert, die ganz bewusst Wind und Wetter ausgesetzt sind, Tag für Tag unter Schuhe und Reifen geraten – genau so hat es der Künstler Gunter Demnig gewollt: Seit 1992 werden seine Stolpersteine verlegt. In Nordrhein-Westfalen gibt es inzwischen rund 15000.Der WDR hat gegen das Vergessen jüngst eine frei verfügbare App mit Informationen zu jedem Stein entwickelt.

„Wir haben im Unterricht viel über Nazi-Deutschland und über die Juden gesprochen, und was mit ihnen passiert ist“, erzählt Selin: „So etwas darf nie mehr passieren.“ Mia Brüninghaus fügt hinzu: „Wir alle in der Klasse finden es wichtig, dass es diesen Gedenktag gibt.“ Selin Ramsholli: „Es bedeutet mir was, dass wir hier putzen. Wir setzen ein Zeichen für Frieden und Respekt.“

Eine Dreiviertelstunde ist für Ramsholli und ihre Gruppe eingeplant für die beiden Steine vor dem Geschäft im Grandweg und weitere Stolpersteine in der Jakobistraße 19 – 21. Ein Fernsehteam begleitet die Gruppe. Die Zeit drängt, damit alle pünktlich um viertel vor elf unter den Rathausbögen sind: Bürgermeister Dr. Eckhard Ruthemeyer will sich bei allen bedanken. Im Freien, unter den Rathausbögen, nur kurz und ohne großes Programm: Es ist immer noch Corona.

„Wir brauchen eine Erinnerungskultur. Wir dürfen nicht vergessen – es gibt nach wie vor Intoleranz und Rassismus, Leute, die aus der Geschichte nichts gelernt haben“, sagt Ruthemeyer SchülerInnen und Lehrern, bevor alle sich auf den Rückweg zum Unterricht machen.

„Wir brauchen diese Erinnerungskultur, wir dürfen nicht vergessen: Die Zeitzeugen sterben, die jungen Leute müssen erfahren, was passiert ist und müssen es weitergeben“, das unterstreicht Schulleiter Martin Fischer vom Aldegrever-Gymnasium auf dem Weg zurück. Fischer: „Ich bin Geschichtslehrer, und ich bin inzwischen bestimmt dreißigmal in Auschwitz gewesen: Es ist so erschreckend, wieviele Menschen damals ihre Kreativität darauf verwendet haben, sich auszudenken, wie man Menschen umbringt. Schlimm ist, dass wieder mehr und mehr Leute sich hinstellen und alles leugnen. Dem muss man entgegentreten, den Rechten muss man mit Fakten kommen.“

Darya Annina und Scarlett Regelin machen bald ihr Abi am Alde. Sie unterstützen, was Fischer sagt. Darya Annina erzählt, dass sie am Gedenktag vor zwei Jahren mit zur Besetzung eines Musikdramas gehörte: „Die Kinder der toten Stadt“ über das Schicksal der Kinder im Ghetto Theresienstadt, aufgeführt im Tagungszentrum in Bad Sassendorf.

„Man muss dem Bürgermeister Malte Dahlhoff riesig dankbar sein, dass er so etwas möglich gemacht hat – es bedarf so einer Ebene, um Geschichte, Zusammenhänge und das ganze Grauen altersgerecht zu vermitteln“, findet Martin Fischer. Das gelang eindrücklich. Darya Annina erinnert sich, als wäre es heute gewesen: „Selbst die größten Sprücheklopfer, die sonst immer Unsinn machen und laut sind, die waren am Ende des Stückes ganz still und nachdenklich. Darum geht es ja auch: Nachdenken und nicht vergessen.“

Scarlett Regelin findet, dass gerade dieses Musikdrama alles richtig auf den Punkt gebracht hat und alle berührt hat: „Es ist wichtig, dass gerade junge Leute das alles jungen Leuten erklären und weitergeben – das wird noch mehr akzeptiert und noch mehr verinnerlicht.“ Sie findet auch: „Wenn heute Corona-Leugner herkommen und leichtfertig irgendwelche Nazi-Vergleiche ziehen, dann kommt’s mir hoch.“

Martin Fischer, Darya Annina und Scarlett Regelin geben mit auf den Weg: Im Juni soll es ein internationales Konzert von Schülern geben, mitten in der Todesfabrik von Auschwitz. Das Aldegrever-Gymnasium will mit dabei sein, sich jetzt schnell bewerben mit jungen Talenten aus der Oberstufe und Mittelstufe. Informationen gibt es am Aldegrevergymnasium direkt beim Schulleiter Martin Fischer und der Musik- und Religionslehrerin Nina Pieper.

Bürgermeister Dr. Eckhard Ruthemeyer bedankt sich nach der Aktion unter den Rathausbögen bei allen Schülern und Lehrern.

Diese beiden Stolpersteine vor dem Haus erinnern daran, dass Rosa und Johanna Zilversmit im Haus Nummer 15 im Grandweg gewohnt haben. Fotos: Thomas Brüggestraße