Das "Nie Wieder" gerät in Vergessenheit

Erstellt am 13.05.2022

Bördeautoren veröffentlichen Kriegs-Anthologie und werden von der Ukraine-Krise eingeholt

Rudolf Köster hat mit zahlen „Bördeautoren“ eine Kriegs-Anthologie veröffentlicht. Foto: Klaus Bunte

 

Von Klaus Bunte

Kreis Soest. Eigentlich sollte es um die Vergangenheit gehen. Darum, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Doch dann wurden die Bördeautoren von der Gegenwart eingeholt, es wiederholt sich tatsächlich. Denn ihre dritte Anthologie erschien nicht ohne Grund am 8. Mai. Es war der 77. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa. Als die Autoren des Vereins mit dem Projekt begannen, ahnten sie ja nicht, dass wenige Wochen vor Erscheinen des Buchs ein Krieg mit vielen Tausenden Opfern ausbrechen würde. Oder vielmehr, dass er begonnen worden sein würde. Denn so heißt das neue Buch: „Kriege brechen nicht aus. Kriege werden begonnen.“

Ausgangspunkt war vielmehr die Problematik, dass die rechte Szene den eigentlich positiven Begriff des Querdenkers für sich vereinnahmt hat, erzählt Rudolf Köster, bis vor Kurzem noch 1. Vorsitzender der Bördeautoren, der sein Amt zu Jahresbeginn weitergab. „Zugleich haben wir so viel Testosteron in der Politik, nicht nur bei Trump und Erdogan, auch in Europa, in Polen und Ungarn. Uns fiel, oder vielmehr, stieß auf, dass ganz normale Menschen sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen, weil sie eine Weile nicht feiern gehen konnten. Die Generation derer, die das noch miterlebt haben, stirbt langsam aus. Einige von uns haben aber noch Kindheitserinnerungen“, so Köster.

In den gemeinsamen Gesprächen habe man bemerkt, da wird was vergessen: „Die Menschen vergessen, was Krieg wirklich bedeutet. Sicher, es gibt derzeit noch andere Kriege. Aber es rechnet doch keiner damit, dass so etwas in Europa oder am Rande Europas passiert. Dieses ,Nie wieder‘ gerät in Vergessenheit, das ist unsere Befürchtung. Noch können wir davon erzählen oder die Großeltern befragen. Wir alle haben Menschen in der Verwandtschaft, die durch den Krieg etwas wurden, was sie eigentlich nicht sind. Und so haben einige von uns für ihre Beiträge in der eigenen Familie recherchiert.“

Mitten in der Produktion dann Putins Angriffskrieg. „Da musste ich mein Vorwort umschreiben“, meint Köster, alle anderen Beiträge seien zuvor entstanden. Im Vorwort schreibt er daher: „Und dann mussten wir 77 Jahre nach dem Ende eines furchtbaren Weltenbrandes mit über 60 Millionen Toten erleben, dass Krieg wieder zum Mittel der Politik geworden ist. Eine für uns Europäer bislang undenkbare Auferstehung dieses furchtbaren Molochs, nachdem wir inzwischen mehrfach erlebt hatten, wie die Mächtigen in Europa bei Interessenskonflikten den gewaltfreien Konsens über Verhandlungen suchten und fanden. Also miteinander so umgingen, wie wir es seit nunmehr fast 80 Jahren in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft kennen, in der die Gewaltenteilung sowohl über staatliches Handeln wacht als auch die Bürgerrechte wahrt.“

Vielleicht ist es die düstere und ernsthafte Thematik, die nicht auf Unterhaltung ausgelegt ist. Doch den Bördeautoren gelingt damit ihr bis dato wohl bester Wurf. Hannelore Johännigs Kurzgeschichte etwa ließe sich fast eins zu eins in die Ukraine der Gegenwart übertragen, hat man doch dauernd die Bilder der ausgebombten Häuser vor Augen. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem gebrauchten Puppenhaus, das es zum Geburtstag erhält, nicht viel anfangen kann, weil es dadurch zu sehr erinnert wird an die offenen, weil ausgebombten  Fassaden der mehrstöckigen Mehrfamilienhäuser, in denen ebenfalls noch die Möbel zu sehen sind. Ebenso lassen sich Parallelen ziehen, wenn Rudolf Köster über unschuldig im Krieg gestorbene Kinder sinniert und Bodo Gerlach über die Notwendigkeit und völkerverbindende Natur von Musik und Kultur auch in schwersten Zeiten.

Eva Borgmann verwickelt sich in ein fiktives Gespräch mit ihrer Mutter über ihren Großvater, zugleich treusorgender Familienvater und verurteilter Kriegsverbrecher, gleicht historische Daten ab mit den Orten, an denen er sich im Krieg befand. Auch Eva von Kleist beschäftigt sich mit der Schuldfrage der Väter-Generation. Mit der Frage, wie sich die Erlebnisse der Kriegsteilnehmer auf die nachfolgenden Generationen auswirken, befasst sich Adele Stein.

Monika Loerchner zeichnet die Eskalation der Gewalt anhand eines Gesprächs zwischen Enkel und Großvater nach, dessen Vaters Tod durch die Ausradierung eines ganzen Dorfs gerächt wurde. Anja Grevener erzählt von der nur noch durch ein Wegkreuz am Leben erhalten Erinnerung an ein ermordetetes Kind, dessen Tod wiederum durch Gräueltat der Selbstjustiz gerächt wurde.

Milla Dümichen schildert das unmenschliche Leben im russischen Arbeitslager, Luzie Irene Pein lässt ihre Tante die Geschichte ihrer Vertreibung erzählen, ein Thema, das auch Dagmar Schindler aufgreift. Andrea Hundsdorfer beschäftigt sich mit der Bombardierung der Möhnetalsperre, Michaela Kaiser mit der sinnvollen Zweckentfremdung propagandistischer Zeitungen. Allein  Science-Fiction-Fan Wolfgang Pippke blickt in eine düstere Zukunft und malt sich in dunkelster Dystopie das Leben auf dem Lande nach dem Atomschlag unter völliger Anarchie aus.

Buch und Info

Das Buch erscheint im Bad Sassendorfer Pigmentar-Verlag (ISBN 978-3-945692-42-4) und kostet 11,95 Euro. Mehr zum Verein im Internet unter https://boerdeautoren.jimdofree.com.