Der lange Weg zum Grab des Vaters

Erstellt am 10.03.2023

Nach fast 80 Jahren hat Familie Anemüller Gewissheit über die letzte Ruhestätte

523 Kriegsgefangene starben zwischen Dezember 1944 und Juni 1948 im Spezialkrankenhaus Nr. 3780 und wurden auf dem deutschen Friedhof im Dorf Lishchynivka begraben. Fotos: privat

Von Hans-Albert Limbrock

Bad Sassendorf. Seit über einem Jahr wütet der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Täglich sterben unzählige Menschen; auf ukrainischer Seite auch Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte. Die russischen Angriffe machen da nur wenig Unterschied. Für die Familie Anemüller aus Bad Sassendorf hat dieser Krieg allerdings noch einmal eine ganz andere Dimension als für die meisten Menschen in Deutschland.

Doch der Reihe nach: Über 75 Jahre lang waren Martin Anemüller, der jahrelang als Presbyter in der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Sassendorf aktiv war und dort den Männerkreis geleitet hat, sowie seine Geschwister im Unklaren über das Schicksal ihres Vaters, der nach dem Ende des 2. Weltkriegs 1945 vermisst geblieben war. „Wir wussten auch über ein Jahrzehnt nach Kriegsende nicht, ob unser Vater Theodor Anemüller in den letzten Kriegsmonaten gefallen, in Gefangenschaft geraten oder verschleppt worden ist. Oder lebt er vielleicht sogar noch?“, formuliert Anemüller die Fragen, die ihn und seine Geschwister immer wieder umgetrieben haben.

Zufall oder Fügung?

Berichte von Heimkehrern brachten in der zweiten Hälfte der 50er Jahre nur wenig Aufklärung. Eine Spur führte in die Tschechoslowakei, wo er in amerikanische Gefangenschaft geraten und dann an die Sowjetunion ausgeliefert worden sein sollte. Anfang 1960 dann die Nachricht vom Suchdienst des Roten Kreuzes. Demnach war Theodor Anemüller im Januar 1946 verstorben. Nähere Angaben zu Ort und Todesursache gab es nicht. Darauf mussten die Anemüllers  noch bis zur Jahrtausendwende warten. Aus Dokumenten, die ihnen übermittelt wurden, ging hervor, dass ihr Vater im November 1945 in ein Krankenhaus in der Region Poltawa in der Ukraine eingeliefert worden war, wo er dann knapp zwei Monate später verstarb und auf einem zu einem Gefangenenlager gehörenden Friedhof beerdigt wurde..

Martin Anemüller: „Die Frage, ob Vaters Grabstelle fast 80 Jahre nach Kriegsende noch aufzufinden sei, hat uns immer wieder beschäftigt, zumal sich dieser Friedhof nicht in der Obhut des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge befindet.“

Mit Beginn des Ukraine-Krieges hat diese offene Frage dann eine neue Dynamik bekommen. Familie Anemüller entschloss sich im vergangenen Frühjahr, ihre kleine Ferienwohnung einer ukrainischen Flüchtlingsfamilie zur Verfügung zu stellen. Mitte April zog die kranke Tatiana mit ihrem Sohn Dimitri dort ein.

War es Zufall oder Fügung: Bei einem Gespräch erzählte Martin Anemüller dem Mann aus der Ukraine von der fast 80jährigen Suche der Familie nach der letzten Ruhestätte des verstorbenen Vaters. Dimitri berichtete von Freunden in der Ukraine, die gut vernetzt seien und die er ansprechen wolle.

Wenige Woche nach diesem Gespräch traf dann völlig überraschend eine Nachricht aus der Ukraine in Bad Sassendorf ein. Valery K. schrieb darin: „Lieber Martin! Ich gestehe, dass der Brief von Herrn Dmytro (Dimitri) für mich eine große, aber angenehme Überraschung war. Fakt ist, dass ich schon seit geraumer Zeit gebürtige deutsche Kriegsgefangene suche, die im Spezialkrankenhaus Nr. 3780 waren und zwischen Dezember 1944 und Juni 1948 starben. In dieser Zeit starben 523 Kriegsgefangene und wurden auf dem deutschen Friedhof im Dorf Lishchynivka begraben, das etwa 7,5 km von der Stadt Kobeljaky entfernt ist, in der ich lebe und arbeite ...“

Und weiter hieß es in dem Brief, er habe sich auf die Suche nach dem Grab von Theodor Anemüller gemacht, dieses tatsächlich gefunden und dort einen Blumenstrauß niedergelegt. Dem Brief war ein Foto des Grabes beigefügt. Martin Anemüller: „Mit einer solchen Nachricht hatten wir nicht gerechnet und sind sehr erfreut und dankbar auch zu wissen, wo unser Vater begraben liegt. Der Friedhof liegt inmitten von Gemüsefeldern und ist nur sehr schwer von Fremden zu finden, wie uns gesagt wurde.“

Jahrzehntelange Suche

Für die Familie Anemüller ist damit eine jahrzehntelange Suche abgeschlossen, wenngleich auch noch nicht alle Fragen beantwortet sind: „Wir sind allen genannten Menschen so auch den Institutionen Volksbund und Rotes Kreuz sehr dankbar für die Geschichte und die Hilfe auf dem Weg zum Grab unseres Vaters“, so Martin Anemüller.

Überwältigt sei man davon, dass Ukrainer auch Interesse an der Geschichte der einstigen Angreifer und Kriegsgegner im zweiten Weltkrieg hatten und noch haben: „Es sind Partnerschaften mit dem Ziel der Versöhnung.“ Zu diesem Versöhnungsziel ist zum Beispiel 1993 zwischen den Städten Singen (Hohentwiel) – Kobeljaky eine Städtepartnerschaft geschlossen worden, die sich auch der Pflege des Deutschen Friedhofs annimmt.

Bedauerlich sei sicherlich, dass die Familie die letzte Ruhestätte des Vaters nicht mehr werde besuchen können: „Wir können mit unseren mehr als 80 Lebensjahren und bei der derzeitigen Kriegssituation leider nicht mehr den Weg zum Friedhof antreten. Vielleicht werden sich unsere Kinder einmal auf den Weg zum Grab ihres Großvaters aufmachen, wie wir mit ihnen in den 1990-er Jahren das Grab des anderen Großvaters in der Slowakei suchten und es fanden.“

Dass der aktuelle Krieg längst auch die Region Poltawa eingeholt hat, hat Valery in einem weiteren Brief vor dem Jahreswechsel deutlich gemacht: „In den letzten Wochen und Tagen hat sich zu unserem großen Bedauern der russische Beschuss und die Bombardierung ukrainischer Städte und Dörfer intensiviert. Jetzt haben wir oft Strom, Heizung und Wasser abgeschaltet. Das letzte massive Bombardement war gestern – die gesamte Region Poltawa wurde von der Stromversorgung abgeschnitten – und wir blieben in Kobeljaky mehr als einen ganzen Tag zu Hause – ohne Strom, ohne Wasser, ohne Kommunikation und ohne Heizung." Nach jüngsten Berichten von Valery haben auch hier die Kriegsfolgen deutlich zugenommen.

Nach fast 80 Jahren hat Martin Anemüller endlich Gewissheit über die Grabstätte seines Vaters. Paradox: Ohne den Krieg in der Ukraine hätte er das vermutlich nie erfahren. Foto: Hans-Albert Limbrock

Ein einfaches Metallschild erinnert an Theodor Anemüller.