Auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft

Erstellt am 20.04.2023

Vierköpfige Familie sollte nach Armenien abgeschoben werden / Kinder bestens integriert

Traurige Augen, leerer Blick: Susanne (13), Ruben (14), Nelli und Arman stehen nach ihrer Abreise aus Dinker vor einer ungewissen Zukunft. Fotos: Hans-Albert Limbrock

Von Hans-Albert Limbrock

Dinker. Es sind Tränen geflossen. Viele Tränen. Noch nie zuvor haben sich die engagierten Menschen, die sich seit vielen Jahren in der Evangelischen Kirchengemeinde Niederbörde - Kirchspiel Dinker - um Geflüchtete kümmern, so hilf- und machtlos wie im Fall der Familie Matsakyan gefühlt.

Vor mehr als einem Jahr sind Vater Arman (43) und seine Frau Nelli (35) mit den beiden Kindern Ruben (14) und Susanna (13) aus Kiew vor Putins Bomben geflohen. Eigentlich wollten sie nur möglichst weit in den Westen der Ukraine reisen, aber dann machten im Zug Gerüchte die Runde, dass der Krieg auch dort schon bald ankommen würde; also sind sie weiter bis nach Deutschland geflüchtet und schließlich Anfang April 2022 in Dinker gestrandet.

„Die Familie hat vom ersten Tag an ein großes Engagement gezeigt, sich möglichst rasch zu integrieren. Und das ist allen überaus beeindruckend gelungen“, sagt Diakonin Sabine Riddermann. So besuchten beide Kinder bis zu den Osterferien das Conrad-von-Soest-Gymnasium – mit gutem Erfolg und guten Noten. Vater Arman hat eine Arbeitsstelle in einer Autowaschanlage gefunden. Sein Arbeitgeber war bereit, ihm einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu geben.

Dass sie nun, nach etwas mehr als zwölf Monaten, in ihre ursprüngliche Heimat Armenien abgeschoben werden sollten, macht Riddermann und die anderen Unterstützer sprachlos, traurig und auch durchaus wütend. Maria Geier, die selbst aus Kasachstan stammt, seit Jahren in Welver wohnt und als Dolmetscherin die Familie vom ersten Tag an unterstützt hat, drückt aus, was alle empfinden: „Wir sind schockiert.“ Und Sabine Riddermann ergänzt: „Das ist so ungerecht. Eine ganz große menschliche Tragödie.“

Nun ist das deutsche Asylgesetz nicht dafür bekannt, dass zwischen den Buchstaben des Gesetzes auch Begriffe wie Menschlichkeit oder Nächstenliebe Platz haben. Vielmehr fällen die Ausländerbehörden in der Regel ausschließlich auf Grundlage der Paragrafen und der vorliegenden Fakten ihre Urteile. Im Fall der Familie Matsakyan bedeutet dies, dass es aus Sicht der Behörden keinen Grund gibt, in Deutschland zu bleiben, weil sie eben ursprünglich aus Armenien kommen.

Aus ihrem Heimatland sind sie bereits 2001 – also vor über 20 Jahren – ausgewandert, zunächst nach Russland, später dann in die Ukraine. Die beiden Kinder haben überhaupt keinen Bezug zu Armenien. Ruben wurde in Moskau geboren, Susanna zwar in Armenien; aber nur, weil Nelli hochschwanger dort ihre Mutter besucht hat und das Baby ein wenig zu früh auf die Welt gekommen ist. Nach wenigen Wochen sind Mutter und Tochter zurück nach Russland.

Aus Armenien sei man ausgereist, weil immer wieder Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan gedroht habe. „Dort konnte man nicht mehr in Frieden leben“, verdeutlicht Vater Arman. „Ich war schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr in Armenien.“ Nelli macht die verzweifelte Situation der Familie deutlich:  „Wir haben absolut nichts in Armenien, keine Arbeit, keine Wohnung. Gar nichts.“

Gefühl der Ohnmacht

Auch Friedrich Schulze zur Wiesch, Vorsitzender des Presbyteriums Niederbörde, hätte sich eine andere Entscheidung der Behörden gewünscht. Gleichzeitig aber glaubt er, dass es hier wohl nur wenig Spielraum für die Ausländerbehörde gibt, weil die Matsakyans nun einmal armenische und keine ukrainischen Papiere haben: „Wir hatten gehofft, dass für sie die Sonderregelungen für Menschen aus der Ukraine gelten. Aber dem ist nach der geltenden Rechtslage offenbar nicht so. Das ist unverständlich, und ich kann auch nicht verstehen, dass keine individuelle Prüfung, besonders zu der Integrationsleistung der Familie, vorgenommen worden ist.“

Das Gefühl der Ohnmacht teilen alle Mitglieder der kirchlichen Unterstützungsgruppe in Dinker: „Immer wieder hört man im Radio von Facharbeitermangel und dass die Gesetze geändert werden müssen, um ausländische Arbeitskräfte anzuwerben – und dann sowas. Das ist doch paradox“, kritisiert auch Anne Schlotmann

Am Montag, 3. April, sollte sich die Familie bei der Ausländerbehörde des Kreises Soest einfinden. Doch dort sind sie nie angekommen. Offenbar war die Furcht zu groß, direkt nach Armenien abgeschoben zu werden. Bei Nacht und Nebel haben sich Arman, Nelli, Ruben und Susanna Matsakyan auf eigene Faust aufgemacht - vermutlich, um direkt in die Ukraine zurückzureisen – jenes Land, in dem täglich Hunderte Menschen durch Bomben und Artilleriegeschosse sterben.

Vor allem Ruben und Susanna leiden unter der ungewissen Zukunft. „Ich möchte gerne hierbleiben, hier ist meine Zukunft“, hatte der 14-Jährige vor der Abreise im Gespräch mit dem Autor dieses Textes gesagt, und seine Schwester hatte mit Tränen in den Augen ergänzt: „Ich habe doch meinen Platz hier gefunden.“

Maria Geier hat die Familie vom ersten Tag an unterstützt.

Enttäuscht und traurig sind die Unterstützer aus der Kirchengemeinde Niederbörde, dass die Familie aus Armenien keine Zukunft mehr in Dinker hat.

Hintergrund

Auf Grund der überstürzten Flucht, ein 3 Kilometer von ihrer Wohnung entfernt gelegenes Öllager war mit Bomben angegriffen worden, ist die Familie Matsakyan ohne ukrainische Papiere ausgereist, nur mit ihren armenischen Pässen. Für geflüchtete Menschen aus der Ukraine wurden nach Kriegsbeginn in den aufnehmenden Ländern rechtliche Ausnahmebedingungen geschaffen. Diesen Status zu erlangen, ist der Familie auch in einem gerichtlichen Verfahren nicht gelungen. Zuletzt hat eine Härtefallkommission des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes NRW beraten und entschieden, dass die Familie nicht unter die Ausnahmebedingungen für Ukraineflüchtlinge fällt. Wie auch schon zuvor das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht.  Im März wurde diese  Entscheidung der Familie vom Kreis Soest mitgeteilt verbunden mit Aufforderung, einen Termin bei der Ausländerbehörde wahrzunehmen.