Jede dritte Frau erlebt Gewalt

Erstellt am 12.05.2023

Frauenhaus wird dreiunddreißig Jahre alt und hat Wünsche für die Zukunft

33 Jahre Frauenhaus sind eigentlich kein Grund zum Feiern; eher ein Grund zur Scham. Für Leiterin Maike Schöne und leitende Pfarrerin Birgit Reiche (von links) aber allemal ein Grund, Bilanz zu ziehen und in die Zukunft zu blicken. Fotos: Hans-Albert Limbrock

Von Hans-Albert Limbrock

Soest. Es passiert jeden Tag, nahezu jede Stunde. Manchmal in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, oft sogar in unseren eigenen Familien: Gewalt gegen Frauen. 150.000 gemeldete Straftaten hat das Bundeskriminalamt in seiner jährlichen Statistik zuletzt gemeldet. „Die Dunkelziffer ist ungleich höher; zu uns kommen etwa zwanzig Prozent der Betroffenen“, weiß Maike Schöne, die seit dreieinhalb Jahren das Soester Frauenhaus leitet. Eine andere Statistik zeichnet die Problematik noch deutlich schärfer: Weltweit wird jede dritte Frau mindestens einmal im Leben Opfer physischer, psychischer, sexualisierter oder ökonomischer Gewalt

Angesichts dieser Zahlen überrascht es nicht sonderlich, dass die Zufluchts-Einrichtung, die aktuell in der Kreisstadt noch unter einer anonymen Adresse registriert ist, nahezu ständig belegt; bisweilen auch überbelegt ist. „Wir würden gerne erweitern und weitere Plätze schaffen“, nennt Pfarrerin Birgit Reiche, Leiterin der Westfälischen Frauenhilfe, so etwas wie ihren Herzenswunsch zum 33. Geburtstag. Dass ausgerechnet der 33. in diesen Tagen etwas größer gefeiert wird, liegt – woran auch sonst? – an Corana. Bereits vor drei Jahren waren Festakt und Vorträge geplant – dann kam die Pandemie.

Reiche: „Um die Forderungen der Istanbuler Konvention zu erfüllen, bräuchten wir dreißig Plätze; wir haben aber nur acht.“ Bereits im Mai 2011 wurde in der Stadt am Bosporus ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt ratifiziert. Da die Förderung für dreißig Plätze eher unrealistisch ist, strebt die Frauenhilfe eine Verdopplung an. „Das“, so Schöne“, würde enorm helfen.“

Bereits seit zwei Jahren liegen entsprechende Anträge bei der Bundesservicestelle, die das Förderprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend koordiniert, vor. Bislang wartet man vergeblich auf einen positiven Bescheid. „Aus eigener Kraft können wir das Projekt nicht stemmen. Aber wir bleiben hartnäckig“, verspricht Reiche, sich weiterhin für die dringend nötige Erweiterung einzusetzen, die mit Baukosten in Höhe von 1,5 Millionen Euro veranschlagt ist.

Da die Aufnahme und Betreuung schutzsuchender Frauen und ihrer Kinder nicht voll finanziert ist – auch der Kreis Soest beteiligt sich hieran -, ist die Frauenhilfe auf Spenden angewiesen, um die Lücken zu schließen. Reiche: „Bei voller Belegung – und die haben wir ja in der Regel – kommen wir mit Spenden einigermaßen über die Runden.“

Die Verweildauer der Frauen und ihrer Kinder reicht dabei von einer Nacht bis zu einem Jahr und etwas mehr. Maike Schöne: „Wenn eine Frau sich entschlossen hat, in ein Frauenhaus zu gehen, gibt es in der Regel oft keine Rückkehr mehr in die Familie. Deshalb ist es wichtig, dass sie hier eine neue Perspektive für die Zukunft aufgezeichnet bekommen.“

Aus diesem Grund sind Betreuung und Begleitung der Schutzsuchenden sehr vielschichtig und komplex. Schöne: „Frauenhäuser sind mehr als nur Schutzräume vor gewaltbereiten Partnern. Wir sprechen hier daher von einer sehr intensiven Betreuung und Unterstützung.“  Auch deshalb stehen die Kinder besonders im Fokus. Denn selbst, wenn sie nicht unmittelbar Opfer von Gewalt geworden sind, so haben sie Gewalterfahrungen in der Familie oft erlebt und müssen darin unterstützt werden, das Erlebte zu verarbeiten.

Seit seiner Eröffnung im Mai 1990 ist die Adresse des Frauenhauses eigentlich anonym. Aber in einer Kleinstadt wie Soest ist das natürlich relativ. „Wenn sie am Bahnhof in ein Taxi steigen und sagen, sie wollen zum Frauenhaus, wird man sie in der Regel dorthin fahren“, weiß Birgit Reiche, dass der Schutz durch die vermeintliche Anonymität längst brüchig ist.

Auch deshalb gibt es Überlegungen, die Anonymität in Zukunft aufzuheben. Spätestens, wenn der Um- und Ausbau realisiert werden kann, soll das geschehen. Birgit Reiche: „Gewalt gegen Frauen ist ein großes gesamtgesellschaftliches Problem. Wir wollen es nicht mehr verstecken, sondern sichtbar machen.“ Und Maike Schöne ergänzt: „Diese Frauen und Kinder brauchen eine Stimme, müssen gehört und gesehen werden.“

 

Das Frauenhaus wurde 1990 eröffnet und hat aktuell Platz für acht Schutz suchende Frauen sowie bis zu elf Kinder. Es ist dies die einzige Schutzstelle dieser Art im Kreis Soest. In Nordrhein-Westfalen gibt es 67 derartige Einrichtungen, in Deutschland sind es 182. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei drei bis sechs Monate. Im vergangenen Jahr wurden etwa 7000 Aufenthaltstage gezählt. Das bedeutet, dass zwischen dreißig und sechzig Frauen jährlich Zuflucht suchen. Hochgerechnet auf dreiunddreißig Jahren dürften das 1500 Frauen gewesen sein, die die Einrichtung der Frauenhilfe aufgesucht haben. 96 Prozent der Aufenthalte werden durch das Jobcenter gefördert. Statistiker haben errechnet, dass der Gesellschaft durch Gewalt gegen Frauen ein jährlicher Schaden von 3,8 Milliarden Euro entsteht.