Es geschah auch in Soest

Erstellt am 23.11.2023

Traditionelles Gedenken an die Reichpogromnacht in der Osthofenstraße

Eine Gedenktafel am gelben Haus in der Osthofenstraße erinnert an den Standort der ehemaligen Synagoge, die vor 85 Jahren von Nazis und ihren Anhängern angezündet wurde. Sie brannte nieder. Etwa 100 Menschen gedachten gestern und sprachen sich gegen Hass, Gewalt und Antisemitismus aus. Fotos: Thomas Brüggestraße

Von Thomas Brüggestraße

Soest. Etwa hundert Menschen gedachten der Judenverfolgung in Soest: Vor 65 Jahren brannte in der Osthofenstraße die Synagoge nieder. Ein paar Straßen weiter wurde munter Kirmes gefeiert. Der Brand war der Auftakt für Verhaftungen und Verschleppungen von jüdischen Mitbürgern, Männern, Frauen, Kindern, Greisen, ganzer Familien: Es geschah auch in Soest.

„Warum kann es nicht möglich sein, trotz unterschiedlicher Religionsformen und damit verbundener alltäglicher Lebensweisen friedlich miteinander zu leben?" Das fragte Soests stellvertretende Bürgermeisterin Christiane Mackensen in ihrer Ansprache gegen Hass und Antisemitismus. Peter Breuer sprach für den Rat christlicher Gemeinden, zitierte die Jüdin Hannah Arendt, nach der in Soest eine Schule benannt ist: „Die traurige Wahrheit ist, dass das meiste Böse von Menschen gemacht wird, die sich zwischen dem Bösen und dem Guten nicht entschieden haben.“ Breuer: „Um die Entscheidung für das Gute geht es. Täglich.“

Von der Osthofenstraße zogen alle zum jüdischen Friedhof, legten dort gemeinsam mit Pfarrer Kai Hegemann nach jüdischem Brauch kleine Steine auf eine Gedenkstele, besuchten anschließend auf dem Osthofenfriedhof gegenüber Gräber russischer und weiterer osteuropäischer Zwangsarbeiter, legten dort Rosen nieder.

Niemand störte die Zeremonie in der Osthofenstraße. „Wir hatten im Vorfeld keine Anzeichen, dass wir uns Sorgen machen müssten“, sagte Peter Breuer. „Das Ordnungsamt ist da, einen Polizeibeamten sehe ich. Die Osthofenstraße ist mit zwei Transportern kurzfristig gesperrt, die man quer zur Fahrrichtung gestellt hat. Dann ist während des kurzen Gedenkens hier alles ruhig und ungestört.“

Christiane Mackensen führte in ihrer Ansprache aus, dass sie für diesen Tag in ihre Manuskripte der letzten Jahre geschaut habe. Sie sagte: „Es ist so erschreckend, dass ich schon seit 2015 auf Propagandaschriften mit Fälschungen und Halbwahrheiten hinweise.“ Internet und soziale Medien verbreiteten heute in Sekundenschnelle Falschmeldungen und verzerrte Weltbilder in Sekundenschnelle – in nur wenigen Augenblicken würden so unfassbar viele Menschen erreicht.

Mackensen: „Wie viele von ihnen lesen wohl kritisch? Die wenigsten, möchte ich behaupten. Das ist schlimm, weil auch beim flüchtigen Hinschauen immer etwas im Gedächtnis hängen bleibt – man ordnet es aber nicht ein. Die ständige Wiederholung unreflektierter Wahrnehmungen verfestigt sich.“ Es werde nicht nach falsch oder richtig gefiltert. Die Propaganda bewusster Täuscher, sie wüssten um diesen Mechanismus, nutzten ihn gezielt aus.

Während Menschen aus Soest und Freunde aus der Nachbarschaft am Platz der ehemaligen Synagoge stünden, 85 Jahre später, um wieder Nein! zu sagen zu Hass und Antisemitismus, um einzustehen für Menschlichkeit und Glaubensfreiheit, gegen Ausgrenzung, Terror und Hass, da falle ihr Margot Friedländer ein: Die Holocaust-Überlebende und Zeitzeugin warne immer wieder leise und mit Bedacht: „So fing es 1938 auch an.“

Christiane Mackensen: „Seien wir gewarnt, und nehmen wir das sehr ernst.“ Pfarrer Kai Hegemann zitierte in seinen Ansprachen auf dem jüdischen Friedhof und dem Osthofenfriedhof unter anderem Mahatma Ghandi und Friedrich Schillers „Wallenstein“. Ghandi: „Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann, wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch. Ihr habt stehende Heere für den Krieg, die jährlich viele Milliarden kosten. Wo habt ihr eure stehenden Heere für den Frieden, die keinen einzigen Para kosten, sondern Millionen einbringen würden?“ Schiller lässt in „Wallenstein“ sagen: „Nur wenn wir teilen, haben wir den Frieden auf der Welt. Den Frieden lernen, das ist nichts weiter als teilen lernen.“

 

 

Kleine Steine auf den Grabsteinen sind für Menschen jüdischen Glaubens ein Zeichen der Ewigkeit. Hier legen Teilnehmer der Gedenkveranstaltung auf der Stele des jüdischen Friedhofs gegenüber des Osthofenfriedhofs solche Steine nieder.