Verliebt sein ins Gelingen

Erstellt am 18.04.2024

Vor dreißig Jahren wurde die Bauhütte an der Wiesenkirche durch Johannes Rau eröffnet

Wenn Prigl ruft, kommen sie (fast) alle: In der Dombauhütte wurde in diesen Tagen an das Gründungsdatum der Bauhütte vor 30 Jahren erinnert. Fotos: Thomas Brüggestraße

Von Thomas Brüggestraße

Soest. „...aber nein, man langt doch nicht ins Gesicht hinein, man stupst auch nicht an der Nase, niemals", empört sich Jürgen Prigl. „Nein, auch nicht, um zu schauen, ob der Stein richtig schön glatt geworden ist. Die Finger könnten ja schmutzig sein — und es hat ja auch was mit Ehrfurcht und Respekt zu tun...." Was denn dann Liebespaare machen? „Das ischt egal", befindet der Dombaumeister in Altersteilzeit: „Beim Stein macht man das nicht. Nein, wir Steinmetze machen das nicht..."

Die Umstehenden verfolgen die noch moderate Strafpredigt interessiert, wenden sich dann auch noch einmal den so wunderbar ausgestalteten Köpfen zu, die da aus dem Stein gewachsen sind, Millimeter für Millimeter unter den fachkundigen Schlägen von Jürgen Prigl. „Wenn ich eins kann, dann ist es das hier", sagt er und erläutert ausführlich, wie er zunächst Zeichnungen angefertigt hat, Skizzen aus unterschiedlichen Blickrichtungen. An einem Brett hinter ihm sind sie in der Dombauhütte aufgehängt. Wie er dann von der Fläche in den Raum kam, ins Figürliche, wie er vom überflüssigen Material das befreite, was er in seiner Vorstellung bereits im Stein stecken sah. „Wir müssen wieder verliebt sein ins Gelingen", sagt Prigl.

Zum Üben habe er sich diesen schweren Granitblock hier hin bugsieren lassen, erzählt Prigl weiter, es gebe neue Aufgaben: „30 Jahre lang immer nur Florales, immer nur Ornamentik, das wollen wir ja nun auch nicht haben am Turm. Wir gehen jetzt wieder zurück zu den Ursprüngen, in die Zeit von Baumeister Schendeler, wir machen wieder Fabeltiere, Kreuzungen aus Mensch und Tier, Chimären, so etwas..."

Und dann rechnet er vor: „22 Fialen, also Fi-alen, nicht Fil-i-alen, die haben wir rund um die Kirche. Da brauchen wir dann jeweils vier Chimären, macht in Summe 88, da haben wir eine schöne Arbeit vor uns." Zerstörte und zerschlagene Substanz, die gebe es reichlich an der Kirche. Ordentlich was zu ersetzen gebe es da: „Hitlerdreck", schimpft Prigl über Deppen und Flickschusterei aus der Nazi-Zeit: „Gruselig alles — nicht mit mir. Wir machen das jetzt wieder vernünftig, wie es sich gehört für so einen Bau.“ Wenn also die Renovierungsarbeiten in luftiger Höhe fortgesetzt werden an der Wiesenkirche, dann sollen wieder gute Steine gesetzt werden, und die sollen natürlich meisterhaft ausgestaltet sein.

„Das ist doch Johannes Rau?", zeigt jemand auf einen weiteren Kopf, den Prigl aus dem Stein befreit hat. „Ja, das ist er", antwortet der Dombaumeister im ewigen Unruhestand und erklärt auch hier, wie er ans Werk gegangen ist. Es geht munter weiter mit den Fachgesprächen. Dass Prigl unbedingt mal in Osnabrück vorbeischauen müsse. Dort in der Johanneskirche könne er wunderbare figürliche Arbeiten sehen, auch Beispiele für Fabelwesen — alles unberührt seit dem 14. Jahrhundert. „So machen wir das", dankt Prigl für den Tipp.

Die Kaffeetafel ist gedeckt, aber irgendwie will das nicht klappen mit dem gemeinsamen Plausch beim Kaffee: Alle schauen auf die Steine, Skizzen und Modelle, die im großen Werkraum der Bauhütte versammelt sind. Vor dreißig Jahren hat Johannes Rau hier die Unterschrift unter die Gründungsurkunde gesetzt. Daran soll das Treffen mit Fachleuten und Förderern, mit längst guten Freunden erinnern.

Bruno Kretzschmar ist da, Denkmalpfleger vom LWL, Werner Paetzke, Dombaumeister Gunther Rohrberg, Birgitta Ringbeck, Vorsitzende des Dombauvereins, Peter Füssenich, Dombaumeister aus Köln, Matthias Krabbe, Steinmetzmeister aus Finnentrop, derzeit Gast in der Bauhütte und Umschüler auf professionelle 3D-Scans, Hauptgeschäftsführer Detlef Schönberger von der Kreishandwerkerschaft Hellweg-Lippe. Lockere Gespräche soll es geben, es geht um Austausch, um Stärken von guten Verbindungen. Es gibt kein festes Programm: Prigl erzählt. Der Anzeiger ist da, die Kirchenzeitung auch, Heinrich Buttermann vom WDR lässt die Kamera laufen und hält Prigl erst einmal das Mikrofon hin. Nein — mit der Kaffeerunde wird das nichts...

„Eine Reliquie, oder?" frotztelt jemand. „Das ist das Stückchen Stein, das Johannes Rau damals selber abgeschlagen hat von einem Block." Eine Steinmetz-Schürze liegt auf einem Tisch. Die großen Unterschriften sind von Johannes Rau, von Eckhard Uhlenberg, von Ina Scharrenbach, von Sigmar Gabriel, von Fritz Pleitgen und vielen weiteren Promis. Auch hier am Tisch entstehen sofort wieder neue Gespräche, Erinnerungen kommen auf, über Pläne wird geredet.

Wie lange man noch an der Wiesenkirche arbeiten werde? Prigl lächelt milde bei der Frage: „So ein Werk, das dauert eben..." Was ist für die nächste Zeit geplant? Prigl: „Wir müssen uns um die Festigkeit am Nordturm kümmern. 2023 haben wir da den letzten Stein abgesägt und ersetzt. Der Ringanker dort, der muss jetzt geschlossen werden." Mit großen Bewegungen beschreibt der Meister, wie und wo überall diese Anker sitzen müssen, wie sie Mauerwerk den Drang nach außen nehmen, Bewegungen abfangen und ableiten, alles beruhigen und Stabilität bewirken: Der Druck muss gleichmäßig nach unten wirken.

Was eigentlich aus der Kinderbauhütte geworden ist, die er beim einem Besuch von Landesministerin Scharrenbach als großen Wunsch skizziert habe, für die es Beifall gab? „Nun ja", sagt Prigl, hat sich inzwischen doch mal an den Tisch gesetzt und für zwei Kaffee eingeschenkt: „Sagen wir mal so: Bei der Regionale sind wir nicht zum Zug gekommen. Damit wird das erst mal nichts. Wir machen aber weiter mit kleinen Angeboten, auf Märkten, bei Veranstaltungen, wenn im Museum ein wenig Platz geschaffen ist. Irgendwas fällt uns da ein, es ist ja wichtig, dass gerade die jungen Menschen sich einmal ausprobieren können..."

 

Da braucht man nicht viel Phantasie, dass hier Landesvater Johannes Rau in Stein verewigt wurde.

INFOBOX

Gearbeitet wird an der mehr als 700 Jahre alten Wiesenkirche seit über vierzig Jahren. Die beiden Türme sollen möglichst bis zum 31. Oktober 2027 durchsaniert sein. Mehr als 4500 Steine wurden bislang ersetzt. Pfusch aus der Nazi-Zeit fiel während der Arbeiten auf, massive Schäden an der Traufgesimszone machten Sicherungs- und weitere Sanierungsarbeiten notwendig. Nach den Steinen gerät das Dach in den Blick — auch hier stehen umfangreiche Sanierungsarbeiten an. Ein Enddatum für die Arbeiten an der Wiesenkirche mag derzeit noch niemand angeben. Drei Dombaumeister gab es seit Beginn der Arbeiten in der Neuzeit: Professor Dr. Wolfgang Deurer (1987—1991), Jürgen Prigl (1992—2019) und seither Gunther Rohrberg.

Matthias Krabbe ist 3-D-Experte und schaut sich aktuell in der Bauhütte um.

Auf der Steinmetzschürze hat sich geballte Prominenz verewigt.