Der Landesvater als Fabelwesen

Erstellt am 01.02.2024

Alt-Dombaumeister Jürgen Prigl möchte 88 Chimären für die Wiesenkirche

Vor allem in den Wintermonaten nutzt Dombaumeister a.D. Jürgen Prigl die Zeit, um seine Fabelwesen zu schaffen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind dabei durchaus beabsichtigt. Fotos: Hans-Albert Limbrock

Von Hans-Albert Limbrock

Soest. Den Vorwurf, dass es ihm an Ideen mangele, kann man Jürgen Prigl, dem Dombaumeister im unruhigen Ruhestand, ganz sicher nicht machen. Deshalb überrascht es auch nicht sonderlich, dass er auch nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem jahrzehntelangen Dienst an der und für die Wiesenkirche noch ein Langzeitprojekt im Hinterkopf hat. Und damit es nicht nur bei der Theorie bleibt, sondern es auch etwas vorzuweisen gibt, mit dem man Geldgeber, aber auch andere, die mit Hammer und Meißel am Stein umzugehen verstehen, überzeugen kann, hat der Meister selbst schon einmal Hand angelegt und in einigen hundert Arbeitsstunden verschiedene  „Muster-Chimären“ aus den Oberkirchener Sandsteinblöcken geklopft.

Chimären? Das sind Fabelwesen aus der griechischen Mythologie. In ihnen vereinigen sich in der Regel  zwei oder mehr verschiedene Tiere zu einer neuen Kreatur. Eine der bekanntesten Darstellungen zeigt ein solches Mischwesen aus Löwe, Schlange und Ziege. „Die populärsten Chimären der Kunst- und Kirchengeschichte sind wohl die von Notre Dame“, weiß Prigl.

Aber auch die Wiesenkirche war einst mit diesen Fabelwesen, die häufig als Wasserspeier fungierten  geschmückt. In Höhe der Chorumrandung, also in etwa 25 Metern Höhe, waren sie einstmals angebracht.  Die Originale stammten aus dem Mittelalter und sind mutmaßlich im 19. Jahrhundert verlustig gegangen, nachdem ihnen jahrhundertlang Wind und Wetter zugesetzt hatten. Den Rest haben dann die Nationalsozialisten mit ihrem erodierten und degenerierten Kunstgeschmack entsorgt.

Prigl geht davon aus, dass alle Fialen - kleine Türmchen - mit jeweils vier Chimären besetzt waren. Da es 22 Fialen gibt, müsste es demnach 88 dieser zu Stein gewordenen Fabelwesen gegeben haben. „Ich schreibe deren Entstehung dem Dombaumeister Johannes Schendeler zu“, glaubt Prigl, den wahren Urheber ausgemacht zu haben. Im Original ist nur noch eine einzige vorhanden. Die steht  im Kirchenraum und ist sehr gut erhalten. Sie hat vermutlich für alle anderen als eine Art Vorbild gedient. Die Darstellungen sollten vor allem menschliche Charakterzüge und Eigenschaften widerspiegeln und standen unter anderem für Mut, Weisheit, Geiz oder auch für die Todsünde.

Aber Prigl wäre nicht Prigl, wenn er einfach nur versuchen würde, die historischen Vorbilder nachzuahmen; quasi zu duplizieren. „Das wäre schon ein bisschen wenig“, schmunzelt er verschmitzt. Und deshalb wird man bei genauem Hinsehen bei einigen Chimären augenfällige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ausmachen. Dass eines der Muster an den 2006 verstorbenen Bundespräsidenten und langjährigen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau erinnert, ist daher kein Zufall. „Man erkennt seinen majestätischen Kopf, seine Güte und seine Lebensklugheit“, sagt Prigl und streichelt liebevoll über die grünlich schimmernde Skulptur.

Ob es tatsächlich gelingen wird, alle 88 Mischwesen aus dem Stein zu hauen, ist derzeit noch offen und wird von einigen großen Fragezeichen begleitet. Denn auch hier wird die Realisierung letztlich eine Frage des Geldes sein. „An mir“, so der Dombaumeister a.D., „soll es ganz gewiss nicht liegen; die Glut ist noch da. Und die Berührung mit den Ideen und Arbeiten der Altvorderen ist ein guter Motivator und Antrieb. Es ist ein bewegendes Gefühl, ein Stück christlicher Baugeschichte mitschreiben zu dürfen.“

Erst werden die Entwürfe vorgezeichnet, danach geht es mit Hammer und Meißel an die Umsetzung.

Jürgen Prigl zeigt, wo die Chimären ihren Platz finden sollen.

88 solcher Fabelwesen sollen im Idealfall die Wiesenkirche schmücken.