Menschen wollen Geschichten

Erstellt am 03.05.2024

Für die Weihnachtsszene braucht es keinen Ochsen, der das Kind wärmt

Beim sogenannten Kick-Off zum Maria-Projekt hat Johann Schilling (stehend) den Beteiligten seine Film-Idee vorgestellt. Foto: Hans-Albert Limbrock

Soest. Wenn am Samstag, 18. Mai, die Maria-Tournee in Lüdenscheid startet, dann sind auch Videosequenzen ein ganz wesentliches Element des aufwändigen und ambitionierten Oratoriums. Verantwortlich für die Filmarbeiten zeichnet Johann Schilling, der in Ludwigsburg an der Filmakademie Baden-Württemberg Dokumentarfilm und Regie studiert, verantwortlich.

Über seine Arbeit für Maria schreibt er: “Seit es Menschen gibt, erzählen sich Menschen Geschichten. In anderen Worten, in anderen Bildern. Manche Geschichten sind vergessen, manche wiederentdeckt. Andere haben vielleicht bis heute überlebt. Die Geschichte von Jesus und Maria ist eine Geschichte, die schon lange erzählt wird. Und weil es sie so lange gibt, ist sie für viele Menschen zu einem Symbol geworden, das man zwar kennt, aber nicht versteht. Deshalb brauchen Geschichten – egal wie alt sie sind – immer wieder neue Gesichter und Formen: Damit ihr Kern sichtbar bleibt und sichtbar wird. In unserer sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaft gilt das genauso.

Menschen wollen Geschichten. Denn Geschichten erklären Unerklärliches. In Geschichten lässt sich etwas erleben, was man sonst nicht erleben kann. Man stirbt, ohne sterben zu müssen. Und man überlebt, ohne in Gefahr gewesen zu sein. Die Grundsätzlichkeit dieser Widersprüche spielt eine wichtige Rolle, wenn es um Begegnung mit anderen Menschen geht. Denn Begegnung ist immer widersprüchlich. Die Videosequenzen dieses Oratoriums machen das zum Prinzip. Sie erzählen die alten Geschichten anhand der Beziehungen ihrer Protagonist:innen. Und das über die Blicke und Gesichter von lebenden Menschen, die ihre eigenen Geschichten haben.

Für die Schüler:innen des Berufskollegs Stift Cappel, die die Rollen gespielt haben, waren die Bibeltexte fremd – die existenziellen Herausforderungen, um die es ging allerdings überhaupt nicht. Der betreuende Religionslehrer erzählte, dass der Religionsunterricht mit diesen Jugendlichen vielmehr Beziehungsarbeit als Wissensvermittlung ist. In ihrem Spiel leben die Bilder.

Ich habe versucht, gestalterisch all das wegzukürzen, was für die unmittelbare Begegnung der Charaktere nicht wichtig ist. Für die Weihnachtszene braucht es keinen Ochsen, der mit seinem Atem das Kind wärmt. Eine Krippe mit Stroh auch nicht. Was damals so war, ist heute vielleicht die Thermodecke aus einer Hilfslieferung. Wir sollten uns nicht an Bildern festhalten und dadurch vergessen, was sie zeigen.

Ich denke an all die, die diese Geschichten heute erleben, flüchten müssen und unterdrückt werden. Ich denke an Kinder im Gazastreifen, Terrortote in Israel, Missbrauchsopfer im Nachbarhaus. Diese Bilder sind schrecklich.

Dann gibt es noch die anderen Bilder, die von der heilen Welt, von perfekten Menschen, die mit perfektem Lächeln von Schaufensterflächen zu uns herunterlächeln. Auch diese Bilder sind schrecklich, weil sie mich in ihrer leeren Widerspruchslosigkeit mit meinem Leiden allein lassen. Es braucht andere Bilder, neue Bilder.

Wenn Menschen den Mut haben, die Widersprüchlichkeit ihrer selbst und der Welt zu zeigen und anzuschauen, können Leidbilder zu Leitbildern werden, bunt und voller Hoffnung.”

Johann Schilling hat bei den Filmszenen Regie geführt.

Auf zwei Großbildschirmen werden die Videosequenzen bei den Maria-Aufführungen eingespielt.