Für alle ein richtig schönes Erlebnis

Erstellt am 31.05.2024

Marienkirche in Lippstadt platzt beim Maria-Oratorium aus allen Nähten

Gesangsklassen 5 und 6 des Evangelischen Gymnasiums Lippstadt, Kinderchor, Jugendchor haben unter Leitung von Kantor Roger Bretthauer gemeinsam mit dem Großen Chor der Kantorei Lippstadt für die beeindruckende Chormusik gesorgt. Fotos: Thomas Brüggestraße

Von Thomas Brüggestraße

Lippstadt. Maria, die Zweite. Die zweite Aufführung des szenischen Pilgeroratoriums „Maria, eine wie keine" als großes Konzert. Das gab es in der Großen Marienkirche in Lippstadt, und freie Plätze gab es nicht mehr. Geschätzt um die 500 Menschen sollen hineinpassen, hieß es von den Organisatoren — so ganz genau habe man die Zahl jetzt nicht auf dem Schirm. Bald zweieinhalb Stunden dauerte die Aufführung, und zu loben sind ganz bestimmt und zuallererst die jungen Leute der Theatergruppe Soest-Lippstadt: So viel Text, so viele Einsätze, so viele Chancen, sich zu verhaspeln oder gnadenlos hängenzubleiben vor so vielen Menschen, nicht zu verstehen, was die Souffleuse am Bühnenrand hier und da hilfreich zuflüstert.

Die Vorträge gelangen, zumindest ist nichts groß aufgefallen, und das ist ja schon mal eine Riesen-Leistung für Laiendarsteller. Zumal die ja auch noch zig andere Chancen hatten, sich zu verheddern — in diesem riesengroßen blauen Tuch mit großen Löchern. Die gab es, um den Kopf hindurchzustecken. Das Tuch war Kulisse und Brücke gleichermaßen. Zwischen den Szenen verschwanden die Akteure schwuppdiwupp: Kopf einziehen, klein machen, mucksmäuschenstill sein.

Licht aus und Wechsel zu Schwarzweiß-Einspielern auf zwei hochkant gestellten Großbildschirmen. Oder zu den Chören im Hintergrund. Maria — eine wie keine. Worum geht es? Das kann niemand besser beschreiben als Dr. Manuel Schilling, leitender Pfarrer des Kirchenkreises Soest-Arnsberg. Er ist der Autor, und er hat es für das dicke Programmheft erläutert, was auf der Theaterbühne geschieht. Die war in der Marienkirche in Lippstadt vor dem Chorraum aufgebaut, dahinter fanden die Sänger Platz: Schüler der Klassen 5 und 6 des evangelischen Gymnasiums, Kinderchor, Jugendchor und Großer Chor der Kantorei Lippstadt. Musikalischer Leiter und Dirigent an diesem Abend: Kantor Roger Bretthauer.

Die Szenen, so beschreibt es der Autor, sie entführen in ein Zimmer der Urgemeinde in Jerusalem. In der WG wohnen Petrus, Maria Magdalena, Jesus' Bruder Jakobus, seine Schwester Kori und die alt gewordene Maria.

Josef? Schon verstorben. Die Zeiten sind hart: Die Römer führen ein hartes Regiment, die Urgemeinde lebt verborgen. Die Jünger Matthäus und Lukas klopfen an die Türe, später auch  Markus und Johannes. Weil Evangelisten-Kongress ist im Ort. Neugierig sind sie, Interviews wollen sie führen mit der alten Maria, bevor sie auch noch stirbt: Wie das alles so war mit Jesus, das wollen sie ergründen und aufschreiben. Es geht ja nichts über O-Ton und Zeitzeugen, wenn man ein Evangelium verfassen will.

Neunmalkluge Fragensteller sind genau das, was der kratzbürstig gewordenen Maria noch gefehlt hat. Ganz schön viel zugemutet hat ihr der Sohnemann. Von wegen heil(ig)e Welt! Heilige Welt? Wen kann man befragen? Dazu gibt es Rücksprünge auf den Großbildschirmen. Johann Schilling und sein Kameramann Benedict Uphoff zeigen ausschließlich Gesichter in Nahaufnahme und in Schwarzweiß: Florian Milde als Josef und Merle Groß-Ophoff als Maria sind zu sehen, wie sie sich freuen, wie sie sich ärgern, wie sie leiden, wie sie streiten, wie sie vor Wut fast platzen oder vor Kummer zergehen — wie ganz normale Eltern eben. Denn der kleine, süße Windelpupser aus besagter Krippe wurde dann doch irgendwie aufsässig und rebellisch, so wie andere Söhne auch, ein Mensch eben — da liegen die Nerven schon mal gehörig blank. Und sich überworfen haben mit der Familie, das soll er auch. Oje, oje — wie klopft man das für ein Evangelium in Form? Ob das wohl Quote bringt? Sie steuern womöglich Wahres in Nahaufnahme bei: Josef, Maria, Jesus, Simon, Jakobus und Zufallsmenschen aus Nazareth, die dieses und jenes mitbekommen haben. Baby Maisie Beck dazwischen ist pausbäckig und satt. Knuddel-Alarm. Und Maria? Sie ist ganz Mensch.

Frau, Gefährtin, Mutter. Heilig? Ach, bleib' mir doch weg! Und die Evangelisten? Lassen kein gutes Haar aneinander. Wie war das denn jetzt mit Jesus und dem Verhältnis zu seiner Familie? Jeder wird etwas anderes schreiben. Auch über Maria. Einer wird sie ganz unterschlagen.

„Maria, eine wie keine" — das Gesamtwerk will zum Nachdenken einladen. „Der Blick ins Neue Testament ernüchtert", sagt Dr. Manuel Schilling zum Versuch, Maria zu erfassen: „Aus den verschiedenen Berichten ergibt sich keine schlüssige Geschichte. Was wir von Maria wissen, ist historisch gesehen nur Flickwerk." Genau darin liege die Chance, selber weiter zu denken.

„Erst war der Text, dann kam die Musik", so hat es Dmitri Grigoriev für das Programmheft geschildert: Er ist Kreiskantor in Lüdenscheid und hat die Musik zum Oratorium komponiert.  „Zu Maria gibt es noch kein Oratorium, ich wüsste keines", sagt er. „Die ganze Bandbreite musikalischer Stilistik sollte zur Geltung kommen, ohne dabei in eine gestaltlose Aneinanderreihung zu zerfließen.“ Was zu hören sei, solle vielfältig sein, das sei seine Grundidee gewesen. So spannte sich der Bogen vom gesungenen Kirchenlatein über gregorianische Hymnen bis zum zeitgemäßen Pop-Song.

Der Applaus hätte insgesamt noch viel länger sein dürfen für diese Gesamtleistung — alle Beteiligten strahlten jedenfalls nach mehr als zwei Stunden Aufführung überglücklich, verbeugten sich in Gruppen und winkten fröhlich ins Publikum.

„Für uns alle war es ein richtig schönes Erlebnis", sagte der 15-jährige Markus Köhler später am Telefon. Da war er mit seiner Gruppe gerade in Brackwede in der Bartholomäus-Kirche angekommen.

Auf großen Projektionsflächen wurde die Geschichte von Maria begleitend erzählt.

Da passte keine Maus mehr ins Kirchenschiff. Über 500 Besucherinnen und Besucher haben sich in der Marienkirche vom Pilgeroratorium begeistern lassen.

Die Teilnehmer in Lippstadt- die Sänger: Gesangsklassen 5 und 6 des Evangelischen Gymnasiums Lippstadt, Einstudierung Insa Rüter und Stefan Jost Hollich, Kinderchor, Jugendchor und Großer Chor der Kantorei Lippstadt. Orchester und Band. MusikalischeLeitung: Kantor Roger Bretthauer.

Die Schauspieler: Jugend-Theatergruppe Soest-Lippstadt: Markus Köhler als Markus. Ida Twesmann als Petrus. Merle-Groß-Ophoff als Jakobus. Merle Arbeiter als Lukas. Isabel Hahne als Maria Magdalena. Clara Cedrola als Matthäus. Lina Strych als Maria. Lisa-Marie Roßdeutscher als Kori. Alba Reuther als Johannes.

Regie Henner Kallmeyer. Regie-Assistenz Merle Groß-Ophoff.

Die Darsteller bei den Video-Einspielern Merle Groß-Ophoff als Maria, Neele Wickord als Jesus, Maisie Beck als Baby Jesus, Florian Milde als Josef, Sophie Gronermann als Erzengel Gabriel, Lenja Roxel als Elisabeth, Rick Wolke als Jünger, Melina Springmann als Jünger, Florian Tuschinski als Simon, Jule Tetzacki als Jakobus, Felix Edelhoff, Jule Justus, Zehra Alshasheen und Moritz Gemke als Zeitzeugen aus Nazareth. Regie: Johann Schilling. Kamera: Benedict Uphoff.