Unfassbares zwischen Buchdeckeln

Erstellt am 07.06.2024

Alte Kirchbücher aus Marsberg dokumentieren Grauen aus der NS-Zeit

Auf manchen Seiten des Kirchbuchs sind gleich mehrere „verstorbene“ Kinder untereinander vermerkt.

Marsberg. Eines der alten Kirchbücher der Evangelischen Kirchengemeinde Marsberg hat den Stahlschrank des Gemeindebüros verlassen und befindet sich nun etwa für ein Jahr als Exponat im Kloster Dalheim.

Der Anlass ist allerdings einer, der erschütternder nicht sein könnte. Für die Ausstellung „Und vergib uns unsere Schuld? Kirchen und Klöster im Nationalsozialismus“ suchten die Verantwortlichen nach Belegen in alten Unterlagen. Besonders die Eintragungen über die Verstorbenen in der Nazi-Zeit waren hier von Interesse.

Denn im Rahmen der Kinder-Euthanasie entstanden im St. Johannesstift in Niedermarsberg und in der Provinzialheilanstalt Dortmund-Applerbeck „Kinderfachabteilungen“, in denen schätzungsweise mehr als zweihundert Kinder mit überdosierten Medikamentengaben umgebracht wurden.

Pfarrer Markus Pape: „Nachdem Sonja Rakoczy, wissenschaftliche Mitarbeiterin des LWL, mit der Frage an uns herangetreten war, ob in unseren Kirchbüchern aus jener Zeit etwas auf diese Vorgänge hinweisen würde, fiel es uns beim Hinsehen wie Schuppen von den Augen. Erstaunlich viele Kinder und Jugendliche aus der „Kinderfachabteilung“ bzw. der „Provinzial Heilanstalt“ sind in unserem Kirchbuch aus dieser Zeit als Verstorbene aufgeführt. Auf manchen Seiten des Kirchbuchs gleich mehrere untereinander.“

Was mag damals Pastor Johannes Thaemel durch den Kopf gegangen sein, aus dessen Feder all diese Eintragungen im Kirchbuch stammen. Von 1908 bis 1948 war Thaemel Pfarrer in Marsberg. Pape fragt sich: „Konnte er das damals einordnen oder hat auch er erst sehr viel später ahnen können, was da wirklich vorgegangen ist?“

Mit der Anfrage des LWL werden so schlichte Zahlen, Daten und Namen zu Zeugen erschütternden Unrechts, das zu jener Zeit auch in Marsberg geschehen ist.

Die Sonderausstellung ist noch bis zum 18. Mai 2025 im Kloster Dalheim zu sehen.

Zur Ausstellung

Schließen sich der christliche Glaube und der Glaube an den Nationalsozialismus aus? – Die Frage nach dem Verhältnis der christlichen Kirchen und Klöster zum Nationalsozialismus steht im Zeichen einer beispiellosen moralischen Fallhöhe.

Unter dem Titel „Und vergib uns unsere Schuld? Kirchen und Klöster im Nationalsozialismus“ arbeitet die Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur erstmals in einer großangelegten Sonderausstellung die komplexe Wechselbeziehung von Christentum und Nationalsozialismus für ein breites Publikum auf.

Im Spannungsfeld von Kollaboration und Widerstand stellt die Ausstellung dabei kirchliches und christliches Verhalten in den Kontext der Zeit und zeigt anhand bewegender Beispiele von den einfachen Gläubigen über evangelische und katholische Ordensleute und Bischöfe bis hin zum Papst mögliche Motive für individuelles Handeln bzw. Nicht-Handeln auf.

Pfarrer Markus Pape hat dem Kloster Dalheim das Kirchbuch zur Verfügung gestellt.