Verständnis für Wunsch nach Freitod

Erstellt am 25.02.2022

Soester MS-Kranke kommentieren Prozess vor dem Oberverwaltungsgericht

Michael Hay: „Ich will für niemanden zur Belastung werden“. Foto: Klaus Bunte

Von Klaus Bunte

Soest – Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat im Februar die Klage dreier schwerkranker Menschen, die sich den Zugang zum Betäubungsmittel „Natrium-Pentobarbital“ erfechten wollten, um sich selbst damit das Leben nehmen zu können, abgelehnt. Aktive oder auch „gewerbsmäßige“ Sterbehilfe, bei der ein Arzt ein tödliches Medikament verabreicht, ist in Deutschland verboten, passive dagegen, bei der im Sterben Liegende auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten, ist erlaubt.

Der assistierte Suizid, bei dem der Patient das von einem Arzt oder Pfleger zur Verfügung gestellte tödlich wirkende Medikament selber einnimmt, war bis zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020 verboten. Seitdem ist die Rechtslage diffus. Denn das Betäubungsmittelgesetz erlaubt nur die Abgabe von Medikamenten zur Lebenserhaltung, nicht aber zur Lebensbeendung. Erst scheiterten die Kläger vor dem Kölner Verwaltungsgericht und nun auch mit ihrer Berufung vor der nächsthöheren Instanz. Schwerkranke Patienten mit Sterbewunsch haben laut diesem Urteil kein Anrecht auf ein todbringendes Medikament. Nun wollen sie vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ziehen: zwei Krebskranke sowie ein 51-Jähriger, der seit 20 Jahren an Multipler Sklerose leidet.

Der Mann aus Ramstein ist nur wenig älter als der Soester Torsten Ude. Auch er lebt seit mehr als 20 Jahren mit der Krankheit. Der heute 49-Jährige erhielt seine Diagnose 1998, mit 26 Jahren. Als Dachdecker konnte er schon bald nicht mehr arbeiten, später auch nicht mehr als Verkäufer im Einzelhandel oder im Sicherheitsdienst. MS zwang ihn in den Rollstuhl und mit 34 in die Frühverrentung, er hat Pflegegrad 3. Aus der Not eine Tugend machend, verdient er sich heute etwas dazu durch den Handel mit Rollstuhl-Zubehör wie Motiv-Speichenschützern und Therapie-Tischen, seine Fotos mit Soest-Motiven zieren mittlerweile sogar die Ziffernblätter von Armbanduhren: „Ich habe ein erfülltes Leben. Meiner MS tut das gut, was mir gut tut.“ Er wohnt innenstadtnah in einem modernen Haus mit Fahrstuhl, hat es geschafft, sich mit der Krankheit zu arrangieren, seinem Leben mit sinnvollen und kreativen Tätigkeiten Inhalt zu verleihen und ist nach wie vor in der Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Neue Medikamente sorgen seit einigen Jahren dafür, dass die Erkrankung stagniert, als Nebenwirkung bekommt er jedoch kaum mehr als vier Stunden Schlaf. Das ist jedoch harmlos im Vergleich zum fast gleichaltrigen Kläger im Münsteraner Prozess – er kann weder Arme noch Beine bewegen und lenkt seinen Rollstuhl mit der Zunge.

Torsten Ude hat vollstes Verständnis, wenn jemand einen solchen Grad der Erkrankung erreicht hat, dass er freiwillig aus dem Leben scheiden möchte: „Bei mir wäre der Punkt erreicht, und das wissen meine besten Freunde, wenn ich dauerhaft blind würde, was einem bei MS passieren kann. Nicht wegen der Erblindung allein – meine Mutter arbeitete im Berufsbildungswerk für Sehbehinderte, ich weiß daher, dass Verlust der Sehkraft nicht das Ende des Lebens bedeutet. Ich hatte schon zwei Sehnerventzündungen, erst links, dann rechts. Ein absolut mieses Gefühl, aber damals konnte ich immerhin noch laufen. Aber zusätzlich zum Rolli? Ich fotografiere gerne, meine ganze Welt ist visuell. Wenn ich nichts mehr machen könnte, somit auch nicht mehr meine Kamera bedienen, mir keinen Kaffee machen oder nicht einmal ohne Hilfe aus dem Bett käme, da wäre es auch kein Trost mehr, dass viele gute Freunde und ein gutes Netzwerk habe.“ Insofern, seine Patientenverfügung hat er schon lange ausgefüllt: „Nur noch durch Schläuche und Kabel am Leben erhalten werden, das möchte ich nicht, dann sollen die Geräte abgeschaltet werden.“ Sollte der Punkt erreicht sein, „dann habe ich da einen Freund, der mich in die Schweiz begleitet.“ Dort ist Suizidhilfe unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Eine davon lautet, dass die sterbewillige Person die Selbsttötung eigenhändig ausführen muss. Wozu sie natürlich körperlich noch in der Lage sein muss.

Später als er erkrankte Michael Hay an MS. Heute ist der gebürtige Nordire, der seit 1979 in Soest lebt, 70 Jahre alt. Jahrzehnte lang war er eine Sportskanone, sein Name war in Soest unverbrüchlich mit Badminton verbunden, „ich bin niemand, der tatenlos in der Ecke sitzen möchte“. Dann kam die Erkrankung. Selbst Golf wäre heute nicht mehr möglich. Um am Ball zu bleiben, setzt er sich für den Nationalsport seiner alten Heimat in seiner neuen ein, leitet seit 2018 ein Cricketteam. Geistig hält er sich fit, indem er kostenlose Online-Fortbildungsangebote der britischen Open University nutzt, in Mathe, ein Thema, das ihm sehr liegt. Im vergangenen November kam eine Krebs-OP hinzu. Sie sei erfolgreich verlaufen, „aber ich muss bis zum Lebensende alle paar Wochen zur Antikörper-Therapie, damit der Krebs nicht zurückkehrt.“ Insofern habe auch er Verständnis, wenn jemand den Punkt erreicht, an dem er nicht mehr könne und wolle: „Wir haben jemanden im Bekanntenkreis, der muss rund um die Uhr betreut werden, er kann nichts mehr machen: nicht lesen, nicht schreiben, schon gar nicht spazieren gehen. Das wäre für mich kein Leben. Würde ich da nur noch von Kabeln und Schläuchen am Leben erhalten, dann wäre ich auch nicht mehr der Opa, an den mein Enkel sich erinnern soll. Und ich will auch für niemanden zur Belastung werden. Ich würde mich fühlen wie eine lebende Leiche.“

Allerdings gelte es in dieser Frage, klar zwischen Erkrankung und Behinderung zu unterscheiden, betont Heinz-Werner Einhoff, Vorsitzender des Vereins für Körper- und Mehrfachbehinderte Kreis Soest. Zwar könne beides Hand in Hand gehen, das eine das andere nach sich ziehen. Doch während Erkrankungen fortschreiten können, kann eine reine Behinderung stagnieren – so sei es bei ihm: „Ich bin von Kindesbeinen an spastisch gelähmt, kam quasi im Rollstuhl zur Welt“, begegnet der Soester seiner Situation sogar mit Humor – was aber wohl darauf zurückzuführen sei, dass er es eben nicht anders kenne: „Ich betrachte meine Behinderung nicht als Beeinträchtigung. Menschen dagegen, die ihre Behinderung im Laufe des Lebens bekommen, fällt es viel schwieriger, damit umzugehen. Wer jedoch unheilbar an einer fortschreitenden Erkrankung wie Krebs erkrankt, hat einen ganz anderen Blick auf diese Frage.“ Er betrachtet die Debatte um das Recht auf Selbsttötung daher von zwei Seiten: „Das ist sehr traurig, denn eigentlich sollte es in einer offenen Gesellschaft, in der die Menschen inklusiv leben können, nicht so sein, dass sie dennoch den Wunsch zu sterben verspüren. Auf der anderen Seite hat jeder sein Selbstbestimmungsrecht. Bei uns im Verein halten wir dieses Recht sehr hoch – entscheiden muss das jeder für sich. Von daher, ob ich persönlich das jetzt als gut oder schlecht empfinde, ist nicht die Frage.“

 

Das sagt Dr. Heinz Ebbinghaus, Palliativmediziner und Regionalleiter der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe:

Ich bin ein Gegner der ohnehin verbotenen aktiven Sterbehilfe. Die passive dagegen ist ein kompliziertes Thema. In meiner Arbeit sehe ich viele Patienten, die zu Beginn ihrer palliativmedizinischen Betreuung noch nichts darüber wissen und sagen, dass sie nicht mehr leben wollen. Wenn man ihnen dann eine entsprechende qualifizierte Versorgung anbietet, die sich nach den Beschwerden richtet – und auf dem Feld ist die Medizin sehr weit und hat sich in den letzten paar Jahren sehr stark weiterentwickelt, dann klammern sich viele in der Endphase doch an jeden Strohhalm und wollen dann doch nichts bekommen, was den Sterbeprozess beschleunigt. Jemand, der sterbenskrank ist, freut sich dann schon, wenn er morgens die Augen aufmacht und die Sonne sieht. Was für uns selbstverständlich wäre, ist für ihn Lebensqualität. Wenn es dann so weit ist, und das zeigen mir 20 Jahre Erfahrung in diesem Bereich, geht die Zahl derer, die darum bitten, den Prozess zu beschleunigen, gegen null. Sie alle sind so gut symptomkontrolliert, dass sie sagen: So ist es gut für mich. Zu dem, was sich viele zu ihrem Lebensende wünschen, gehört, dass sie ihr Sterben aktiv miterleben wollen. Sie wollen nicht einschlafen. Insofern sind die drei Menschen, die dort klagen, eher als Ausnahmen zur Regel zu sehen.