"Wir haben schon einen Weltkrieg"

Erstellt am 20.10.2023

Ukrainer Bestseller-Autor Andrej Kurkow zu Gast in der Stadtbücherei

Ein spannender Gesprächspartner: der Soester Journalist Hans-Albert Limbrock (rechts) im Gespräch mit dem ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow. Foto: Klaus Bunte

Von Klaus Bunte

Soest. „Es ist kein Spaß, vom Leben im Krieg zu erzählen“, sagt Andrej Kurkow. Und doch bestimmt Putins Angriffskrieg sein Leben wie seine Arbeit. Das zeigte die Lesung des ukrainischen Bestsellerautors, dessen Bücher in Deutschland bei Diogenes erscheinen, in der Soester Stadtbücherei, mehr aber noch das Interview, das der Soester Journalist Hans-Albert Limbrock mit ihm führte.

Kurkow, 1961 geboren in der russischen Unionsrepublik der UdSSR, lebt zwar seit frühester Kindheit in Kiew, schreibt aber seit über dreißig Jahren auf Russisch, „doch in der Ukraine erscheinen meine Bücher nun schon gar nicht mehr aus Russisch, nur noch in der ukrainischen Übersetzung. Und in Russland sind sie verboten“, so der Autor, der in seiner Heimat Präsident des Autorenverbandes PEN-Club war. „In der Ukraine sich meine Bücher viel besser, diese Leser sind neugieriger und aktiver als russisch sprechende Leser. Das sind meist ältere Leute, die noch Nostalgie empfinden für die sowjetische Zeit.“ Insofern prophezeit er russischer Literatur in der Ukraine keine gute Zukunft: „Dabei waren wir ein sehr tolerantes Land bis zum Krieg.“

Mit der russischen Kultur habe er zwanzig Jahren nichts mehr zu tun, so Kurkow auf Limbrocks Frage, wie viel Russland noch in ihm stecke. „Heute bin ich zu 100 Prozent Ukrainer. Ich glaube, meine vor vier Jahren verstorbenen Eltern waren vielleicht mehr sowjetisch als ukrainisch. Russische Sprechende in der Ukraine sind ein Überbleibsel der sowjetischen Zeit. Vor dem Krieg machten sie noch vierzig Prozent der Bevölkerung aus, doch viele von ihnen zählten zu den ersten zivilen Opfern.“

Kurkow, der zwischendurch Passagen aus dem neuesten Band seiner rund um 1920 in Kiew spielenden Krimireihe las, war während des Interviews voll in der Gegenwart. Vermutlich weiß jeder Ukrainer, wo er war und was er gerade machte, als der Krieg begann. Nicht anders Kurkow, er sei daheim in Kiew gewesen mit einer Frau, servierte zwei befreundeten Journalisten das Nationalgericht Borschtsch.

„Wir versuchten, einander Witze zu erzählen, aber die Stimmung war angespannt. Als wir uns verabschiedeten, kamen schon die ersten Nachrichten über die Handys, und um 5 Uhr gab es die ersten Explosionen. Ab 6 Uhr versuchten alle, Richtung Westen zu fliehen.“ Fahrer schliefen im Stau ein, nachdem sie den ganzen Tag am Steuer gesessen hätten, er selber sei 22 Stunden am Stück gefahren, sammelte unterwegs seine Kinder ein, lebte vier Monate in einer Ferienwohnung. Sein Sohn kehrte schon ganz zu Anfang zurück, ist nach wie vor Kiew.

Limbrock, vier Jahre älter als sein Gesprächspartner: „Ich habe noch nie eine Phase in meinem Leben erlebt, die mir aufgrund der weltpolitischen Lage so viel Angst gemacht hat. Teilen Sie diese Angst?“ Kurkow pflichtete ihm bei: „Ja, denn wir haben im Prinzip schon eine Art Weltkrieg, wenn die Kriegsparteien von anderen Ländern mit Waffen beliefert werden und somit alle beteiligt sind. Und für mich besteht kein Zweifel daran, dass Russland und Nordkorea in Israel involviert sind.“ Dass der Krieg in seiner Heimat in der öffentlichen Wahrnehmung den Kürzeren gegenüber Israel ziehen wird, glaubt er nicht: „Der Westen wird wachsam bleiben, denn wenn die Ukraine diesen Krieg verliert wird er sich ausdehnen in Richtung Polen und Baltikum. Daher wird die Aufmerksamkeit wohl erhalten bleiben.“