"Mein Herz blutet"

Erstellt am 27.10.2023

Soesterin Sabina Kocot bangt um ihre Freunde in Israel

Sabina Kocot engagiert sich seit vier Jahrzehnten für die deutsch-israelische Freundschaft. In den 80er-Jahren lebte sie in einem Kibbuz, der jetzt von der Hamas überfallen wurde und in dem sie viele Freunde hatte. Foto: Klaus Bunte

Von Klaus Bunte

Soest. Wenn Sabina Kocot von dem Telefonat mit ihrem guten Freund aus Israel spricht, dann kann sie schwer die Tränen zurückhalten. Ihre Stimme bebt. „Der überfallene Kibbuz Kfar Aza ganz nah an der Grenze zu Gaza war der erste Kibbuz, in dem ich gelebt und gearbeitet habe. Ihr guter Freund Kobi von dort ist zufällig gerade im Urlaub in Bulgarien. Er sagt, sonst könnten wir jetzt nicht telefonieren, dann wäre er wohl tot, so wie Teile seiner Freunde und Familie. Sie wurden aus ihren Bunkern, die sie nur vor Bombenangriffen schützen, aber nicht vor solchen Überfällen, herausgeräuchert und erschossen, die Frauen vergewaltigt und verschleppt, die Häuser niedergebrannt und zerstört. Keine Armee, keine Polizei helfe ihnen. Mein Herz blutet.“

Eine andere Freundin habe ihr geantwortet: „Sie waren wie Tiere. Das ist kein Krieg. Das sind Terroristen.“ Eine weitere Freundin habe am Wochenende ihre circa 90-jährige Mutter, die sich an den Holocaust erinnert fühle, aus dem Kibbuz evakuiert. „Und auch die armen Menschen im Gazastreifen werden von der Hamas den Israelis zum Fraß vorgeworfen. Denn die wissen doch, was solch ein Anschlag an Vergeltungsmaßnahmen nach sich zieht.“

Gerade erst hat Sabina Kocot als Akteurin der Soester Theatergruppe Stage noch in „Der Untergang“ Parallelen zwischen der griechischen Tragödie „Die Troerinnen“ zu dem Krieg in der Ukraine gezogen. Nun hat die Realität das Stück abermals eingeholt. Denn exakt das, was ihr Freund Kobi ihr beschrieben hat, wurde hier auf der Bühne thematisiert. Während die Ukraine zwar geografisch weniger weit entfernt ist, liegt Israel ihr jedoch emotional näher. Denn sie hat dort gelebt und gearbeitet, hat immer noch innige Beziehungen zu früheren Weggefährten. Einige von ihnen leben vermutlich schon jetzt nicht mehr. Andere werden nun eingezogen, als Reservisten oder junge Erwachsene, „die einfach nur leben wollen“.

Alles begann, als die frühere Münsteranerin vor 40 Jahren im Rahmen ihres Pädagogik-Studiums dort zunächst nach einer ersten kürzeren Reise ihre Zwischendiplomarbeit schrieb, dann ein ganzes Jahr in Israel verbrachte, um an der Uni von Jerusalem zu studieren und ihre Diplomarbeit zu verfassen zum Thema „Das Leben im Kibbuz als Milieu-Therapie für nicht im Kibbuz geborene Jugendliche“. Sprich, es ging darum, wie eingewanderte Jugendliche integriert werden in einem Schmelztiegel aus Juden unterschiedlichster nationaler Herkunft.

„Ich dachte zunächst, nach dem Jahr habe ich alles gesehen“, erinnert sie sich. „Stattdessen habe ich mich komplett in dieses Land verliebt, aber auch gesehen, wie kompliziert es dort ist. Schon mit 22 merkte ich, wie komprimiert ich hier Hass, Liebe, Religion und Einwanderung vorfand.“

Heute arbeitet die Soesterin als Karriere-Coach, begleitet zudem seit vielen Jahren als Tutorin für die  Zentralstelle der Bundesregierung für internationale Berufsbildungskooperation im deutsch-israelischen Programm in der beruflichen Bildung junge deutsche Auszubildende aus unterschiedlichen Berufsfeldern nach Israel, unter anderem für die Soester Jugendhilfe, eine Schwesterorganisation des Bildungsträgers Soester Entwicklungsnetz (SEN). Fürs kommende Jahr seien eigentlich zwei Jugendaustausche mit dem SEN und dem Circuszentrum Balloni geplant, aber gerade aus dem im Januar dürfte nun wohl nichts mehr werden.

Circuszentrum Balloni hat Besuch geplant

Beim ersten Besuch des israelischen Nachwuchsartisten in 2016 saßen Flüchtlinge im Publikum, nach der Aufführung sprach sie sie an und ein junger Mann habe gesagt: „Daheim bei uns in Syrien sind die Israelis unsere Feinde. Doch heute habe ich das erste Mal Israelis getroffen und ihnen applaudiert.“

Mehrmals wurde sie nach den von ihr organisierten Gruppenreisen ausgezeichnet als „Botschafterin des guten Willens des israelischen Fremdenverkehrsvereins“, als „wahrer Freund des Landes“, erhielt 2019 vom Ministerium für Arbeit und Soziales eine Medaille überreicht – inmitten eines Bombenbeschusses: „Aber wir waren damals sicher, versicherte man uns. Doch für sicher hielten sich jetzt auch alle. Und niemand versteht, wie die Planung dieses Angriffs den Geheimdiensten entgehen konnte.“

Erst gerade hat sie mit Anfang 60 noch eine Fortbildung zur Fachkraft im Umgang mit Antisemitismus in der Jugend- und Erwachsenenbildung abgeschlossen. Denn ihre wichtigste Motivation bestehe darin, es jungen Menschen zu ermöglichen, sich eine eigene Meinung bilden, ihre Vorurteile zu überprüfen und mit beiden Seiten zu reden, statt nur klar in Gut und Böse zu trennen: „Das kann selbst ich im Falle des Nahostkonflikts nach 40 Jahren nicht. Was sie stattdessen vorfinden, ist eine Situation, in der wirklich niemand, weder Einheimische noch Auswärtige wie wir, sagen kann, was die einzig gültige Wahrheit ist. Ich bin sehr, sehr stolz, wie viel das in diesen jungen Menschen bewirkt.“

Zu einem der Azubis habe sie weiterhin Kontakt, er habe ihr gesagt, seit jener Zeit könne er nicht mehr unkritisch die Nachrichten über Israel verfolgen. „Ich habe Kontakte zu Israel wie zu arabischen Ländern, habe auch palästinensische Freunde, die aufgrund der Situation dort aber schon längst ausgewandert sind.“

Dabei steht sie selber Israel nicht unkritisch gegenüber: „Das Land hat zwar keinen einzigen Krieg angefangen, dafür ist seine Siedlungspolitik ätzend. Und ich finde, man darf Israel kritisieren, es gibt klare Unterschiede, wann die Kritik antisemitisch ist und wann nicht.“

Auch in Deutschland habe sie zu ihrer Liebe zu Israel Gegenwind erhalten. Bevor sie nach Soest zog, leitete sie in Münster das linke Kulturzentrum „Kreativ-Haus“, bekam Stress mit einem Journalisten, weil sie „mit den Israelis sympathisierte“. Sie vermittelte ihm einen Besuch nach Israel, damit er sich eine eigene Meinung bilden sollte. Heute unterhält Münster eine Städtepartnerschaft zur israelischen Großstadt Rischon LeZion sowie eine Städtefreundschaft zum palästinensischen Birzeit.

Durch die intensive Beschäftigung mit Israels Geschichte und etlichen Besuchen der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wisse sie, wie solcher Hass und Fanatismus entstehen, „und hier in Deutschland bahnt sich das auch wieder an“, meint sie mit Blick auf die Ergebnisse der Landtagswahlen in Bayern und Hessen.

„Daher finde ich es gut, wenn jemand hingeht, in Soest die fremdenfeindlichen und homophoben Aufkleber, die aus dem rechtsextremen Spektrum kommen dürften, von den Laternen kratzt und das öffentlich macht. Ich habe mit Flüchtlingen gearbeitet. Fragt Euch, was wirklich los ist in der ZUE, warum verzweifelte junge Männer alkoholisiert am Bahnhof herumlungern, was nicht stimmt in der Integrationspolitik. Bleibt sprach- und handlungsfähig. Beginnt bei Euch, schaut, was mit den Menschen los ist, die die AfD wählen, die Hass, Verachtung und Feindseligkeit schürt. Wir müssen nicht mehr den Anfängen wehren, wir sind schon mitten drin. Der Extremismus führt in die Katastrophe.“