Bitterer Abschied

Erstellt am 05.01.2024

Würdevoller letzter Gottesdienst mit großer (An-)Teilnahme in Neu St. Thomä

Der Abschied fällt schwer – die Gemeindemitglieder ein letztes Mal gemeinsam beim Abendmahlskreis im Chorraum

 

Von Thomas Brüggestraße

Am Silvesterabend war es so voll wie schon lange nicht mehr: „Wir haben nur noch Wein. Das Brot ist schon alle – das ist ein gutes Zeichen“, sagte Pfarrer Stefan Weyer mitten im vorerst letzten Abendmahl in der evangelischen Kirche Neu Sankt Thomä. Der Sakralbau in der Klosterstraße wird künftig nicht mehr für Gottesdienste genutzt. „Dabei bleibt es nicht. Es werden weitere Kirchen folgen. Der Herr geht andere Wege mit seinem Volk“, sagte Weyer. Einen Grund zur Verzweiflung sehe er nicht.

„Geregelter Rückzug bei schwindenden Kräften“, so sagte es Superintendent Dr. Manuel Schilling in seiner Predigt zum "Es werde Licht" aus dem Schöpfungsbericht der Bibel. Er sprach über 790 Jahre kirchliches Leben in der ehemals ältesten und größten Franziskanerkirche Norddeutschlands. Seit mehr als 170 Jahren wurde hier evangelisch gefeiert. Schilling lobte die lichtdurchflutete filigrane Schönheit: Die besten Baumeister ihrer Zeit hätten nach dem Muster des Kölner Doms beneidenswert Schönes in Soest geschaffen und "orientiert" zum Sonnenaufgang ausgerichtet. Neu Sankt Thomä, ursprünglich als romanischer Bau dem Evangelisten Johannes geweiht, sei heute neben der Wiesenkirche ein anderes Beispiel dafür, wie Baumeister der Hochgotik konstruiert und gearbeitet hätten: "Diese Konstruktion stellt uns in einen kristallinen Raum aus Licht." Vor allem im Chorraum, der sich dem Morgenlicht öffne, sei jeder Zentimeter der Wand aufgelöst und in Fenster verwandelt, um auch keinen einzigen Strahl der Sonne zu verlieren.

Dr. Wolf Kalipp brachte wieder die Orgel zum Klingen. „Die Klänge umleuchten uns farbig und nehmen uns mit zum Himmel“, so lobte Manuel Schilling. Die weitere Nutzung von Neu Sankt Thomä wird noch besprochen. Konzerte dürften dazu gehören.

Verkauf? Abriss? Was soll nun werden? Stefan Weyer war seit 15 Jahren als Pfarrer mit Neu Sankt Thomä verbunden – seit 2008 durch die pfarramtliche Verbindung mit der Johannes-Gemeinde im Soester Süden, seit 2020 im Süd-Zentrum der Emmaus-Gemeinde, die durch Fusion von Hohne, Wiese, Johannes und Neu Sankt Thomä entstanden ist. Er sagte in einem Gespräch vorab: „So eine Kirche wirst du nicht los. Die Abrissbirne wird nicht kommen. Es ist ganz einfach so, dass wir die Kirche nicht mehr für Gemeindegottesdienste nutzen werden, und das hat viele Gründe. Es steht im Zusammenhang mit einer Realität, der wir uns alle schon länger stellen müssen: Weniger Kirchgänger, weniger Mitglieder in den Gemeinden, dadurch weniger Pfarrstellen. Wenig Nachwuchs bei Pfarrerinnen und Pfarrern. Von den aktiven Pfarrern gehen viele demnächst in den Ruhestand. Wir haben mehr Kirchen als Pfarrstellen, wir haben auch weniger Küster – es geht ja auch um Pflege und Erhalt. Gleichzeitig geht es ums Sparen. Wir stellen weniger oder gar nicht mehr ein. Hier in Neu Sankt Thomä ist unser Küster Christian Sawatzki in den Ruhestand gegangen. Wir haben keinen Nachfolger eingestellt.“

 

Kein Grund zur Panik

Man dürfe aber jetzt nicht in Panik verfallen, fand der Pfarrer. Weil die Dinge bekannt seien: „Natürlich ist es dramatisch, natürlich ist es schmerzlich, und auch ich fühle ich mich nicht nur gut, wenn ich an Kirche und die Räume denke. Wir wissen das alles aber schon seit einiger Zeit. Und wir wissen, dass wir mehr und mehr in Zentren denken werden – die Fläche versorgen, das wird Kirche nicht mehr können.“ Eine Region Soest sehe er für die Zukunft. Die Stadt und die Dörfer. Drei Pfarrstellen für neun Kirchen. Mehr gehe nicht, die Landeskirche gebe da den Schlüssel vor: Eine Pfarrstelle für je 5000 Gemeindemitglieder. Vor Jahren waren das noch 2700, dann 3000.

Die Menschen seien bereit, den bereits begonnenen Weg mitzugehen, das sieht Weyer schon jetzt: „Die Menschen aus Johannes und Thomä, sie feiern Weihnachten auch in der Hohnekirche, um nur ein Beispiel zu nennen, wie wir anders zusammen rücken können. Die Kinder aus diesen Gemeinden, sie spielen auch in Hohne. Natürlich hängen die Soester in der Stadt und auf den Dörfern an Traditionen. Sie verbinden sich und ihre Erinnerungen mit bestimmten Gebäuden, und die Stadt ist voll mit schönen historischen Kirchen.“ Aber wie das eben so sei, schmunzelt der Pfarrer mit einem Zitat aus dem Handbuch für eine flotte Predigt: „Traditionen sind wie Laternen. Sie weisen den Weg, aber nur Betrunkene halten sich an ihnen fest...“

Stefan Weyer sagt über die Zukunft des Kirchengebäudes: „Die Gespräche über eine Nachnutzung von Neu Sankt Thomä, welche Gruppen sich da treffen werden, ob es vielleicht ein Kulturzentrum geben wird, das muss sich alles noch finden.“ Praktische Fragen dürften im Vordergrund stehen. Zum

Beispiel: Kann Kultur, können Konzerte und Ausstellungen so einen Kirchenbau erhalten, kommt da genug an Geld herein? Weyer schwärmt stellvertretend für viele: „Die Akustik in Neu Sankt Thomä ist schon einzigartig. Der Kirchenbau besticht mit seiner schlichten Schönheit.

Was hier ausgestellt wird, das kommt gut zur Geltung.“ Weyer räumt ein: „Ja, es schmerzt mich schon, dass wir hier keine Gottesdienste mehr feiern werden.“

Dass es wehtue, eine so schöne Kirche nicht mehr für Gottesdienste zu nutzen, das unterstrich auch Superintendent Dr. Manuel Schilling in seiner ergreifenden Predigt am Silvesterabend. Zwischendurch ließ er das Licht abschalten für zwei Minuten, damit die Menschen meditieren konnten über Sternenglanz und Himmelsfunkeln, über die Zeit und wie sie vergehe.

Über eine Kirche, die immer kleiner werde, über die Christen, die immer weniger würden. Über Gottes Spur in allem, über Trost, Rat, Ermutigung.

Dass er in Neu Sankt Thomä die schönsten Osternächte seines Lebens gefeiert habe, auch das gab der Superintendent den vielen Menschen in der Kirche als persönliches Zeugnis mit auf den Weg: „Ihr lieben Alt-Soester: Ich als Neu-Soester durfte hier zwei Osternächte feiern, es waren die spektakulärsten meines Lebens. Nirgendwo sonst zeichnet sich in der stockdusteren Kirche so fein die Morgendämmerung ab, und nirgendwo sonst bricht so triumphal das volle Osterlicht durch die gewaltigen Maßwerkfenster. Im Finstern hörten wir zum Anfang die Worte 'Im Anfang war das Licht', und dann ertranken wir in den Sonnenstrahlen während des Abendmahls im lichtdurchfluteten Aquarium des Hochchores. Genau nach Osten ist diese Kirche gebaut, und sie weist uns hin auf die Auferstehung Christi. Von dort kommt unsere Rettung.“

Allerdings sei es bei allem Schmerz und bei aller Nachdenklichkeit auch nicht die Kernaufgabe von Kirche, Gebäude zu errichten und zu unterhalten, auch das hob Dr. Manuel Schilling hervor: Es gehe um einen tatsächlichen Aufbruch. Kirche müsse sich wieder auf den Weg machen. Menschen erreichen, Herzen berühren.

Pfarrer Stefan Weyer beim Abschlusssegen, vorne rechts Superintendent Dr. Manuel Schilling, links ein Lektor (Fotos: Thomas Brüggestraße)

Superintendent Dr. Manuel Schilling bei seiner ergreifenden Predigt